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Beitrag vom 28.02.2013
Albertine Sarrazin - Astragalus
Julia Lorenz
Der autobiografische Rohdiamant der "kleinen Heiligen der schreibenden Außenseiter" (Patti Smith) wurde fünfundvierzig Jahre nach ihrem Tod mit einem Nachwort ihres größten Fans neu verlegt und...
... begleitet nun auch LeserInnen im Jahre 2013 aus ihren inneren Gefängnissen.
Patti Smith musste sich entscheiden. Die Künstlerin, zum Zeitpunkt ihrer Erzählung Anfang zwanzig, mittellos unterwegs in der New Yorker Bohème der 1960er Jahre und obendrein unglücklich verliebt, hatte genau einen Dollar im Gepäck, als sie in einem Buchladen in Greenwich Village Bekanntschaft mit Albertine Sarrazin machte. Oder besser gesagt: Mit dem, was sie ihr hinterlassen hatte. Nach kurzem Zögern - Kaffee und Toast gegen den ungnädigen Hunger oder Literatur? - investierte Patti ihre letzten Cents in den Roman "Astragalus" der ihr bis dato unbekannten Französin. "Ich frage mich wirklich, ob ich ohne sie die geworden wäre, die ich bin", möchte die Musikerin mehr als vier Jahrzehnte später wissen – und zwar im Nachwort der Neuauflage jenes Buchs, das sie selbst nach eigenen Aussagen durch viele Nächte gerettet hat.
Innovatorin und Gesetzlose
Im November 1968 war Albertine Sarrazin bereits seit mehr als einem Jahr tot, gestorben mit nur neunundzwanzig Jahren an den Folgen einer Nierenoperation. Sie hinterließ - ihren Lebensumständen geschuldet - ein äußerst schmales Werk: Zwei ihrer Bücher hatte sie im Gefängnis, eines in Freiheit geschrieben. 1964 verfasste sie den Roman "Astragalus", für den Simone de Beauvoir, ihre Entdeckerin, viel Bewunderung übrig hatte: "Zum ersten Mal spricht eine Frau über ihre Gefängnisse".
Anne, Sarrazins Protagonistin und unschwer zu erkennen als Alter Ego der Autorin, kommt die Flucht aus der Haftanstalt teuer zu stehen: Beim Sprung von der Gefängnismauer bricht sie sich ihren Knöchel - den Astragalus - und schleppt sich verletzt an den Straßenrand, wo sie von Julien gefunden wird. Die Neunzehnjährige, die wegen eines Raubüberfalls einsitzt, erkennt in ihm eine verwandte Seele, einen Freund und Liebhaber, vor allem jedoch: Einen Gesetzesbrecher, der sich wie sie jenseits der Grenzen der Legalität am besten auskennt. Anne findet sich zunächst im Kinderbett eines Bekannten Juliens, später in der Obhut einer missmutigen und wenig herzlichen Familie von PensionsbetreiberInnen wieder.
Von ihrem Knochenbruch zur Passivität verdammt, wird sie von ihrem Geliebten von einem Versteck ins nächste geschleppt. Die ersehnte Freiheit sieht anders aus als gedacht: Annes Körper wird zum neuen Gefängnis, und auch die obsessive Liebe zu Julien, der als Krimineller oft nächtelang seinen Geschäften nachgeht, lähmt die junge Frau mehr als jede räumliche Limitation.
Poesie aus der Pariser Banlieue
Eine Geschichte, die sich kein Beatnik hätte wilder ausmalen können - und dabei so dicht an Albertine Sarrazins eigener Biografie, dass sich die Grenzen zwischen Realität und Fiktion auflösen. Selbst der Name ihrer Protagonistin ist ein später Triumph über die Erziehungsanstalt, in der Sarrazin ihre Jugend verbrachte und in der dem jungen Mädchen ihr Taufname "Anne-Marie" entzogen wurde.
Die Autobiografie wird zum Liebes- und Kriminalroman, aber trotz hohem Pathos-Potential gibt die "heilige Albertine mit der Einwegfeder und dem unerschöpflichen Kajal", wie Patti Smith sie nennt, nicht die Märtyrerin: Ihre Anne will alles vom Leben, aber kein Mitleid – nicht von Julien und nicht von der Gesellschaft. Rhetorisch ist sie zu Hause im rauen Pariser Vorstadtmilieu und bedient sich dennoch einer lyrischen Sprache, die mit Aufrichtigkeit und emotionaler Wucht die Grenzen der eigenen Belastbarkeit auslotet. Diese rohe, unprätentiöse Poesie stand schon Irmgard Keuns "Kunstseidenem Mädchen" gut zu Gesicht und kleidet auch Sarrazins Protagonistin: Albertine aka Anne ist verletzlich und unzerstörbar zugleich, sensibel und lakonisch, liebt homo- und heterosexuell und geringschätzt bürgerliche Moralvorstellungen - nicht aus Attitüde, sondern weil ihre Lebenssituation es ihr abverlangt.
Albertine und Patti
Nach fünfzig Jahren ist nun also die Neuauflage des Romans erschienen. Warum die Ehre des Nachworts gerade der US-Amerikanerin Patti Smith gebührt, beantwortet diese selbst: Lässigkeit und Entschlossenheit habe ihr Anne als Leitfigur mit auf den Weg gegeben, erzählt die Musikerin, und ob ihre frühen Gedichte ohne "Astragalus" so viel Schärfe gehabt hätten, sei ebenfalls fraglich. Trotz sehr unterschiedlicher Schicksale verbindet beide Künstlerinnen vor allem eines: Ihre Kompromisslosigkeit und radikale Gier nach Leben, die in im Werk Smiths in Zeilen wie "Jesus died for somebody´s sins but not mine" (aus dem Song "Gloria") niederschlägt. Sarrazins Zeit war für allzu viel Reue schlichtweg zu knapp bemessen. Nach ihrer ersten Festnahme versicherte die damals sechzehnjährige Albertine dem Untersuchungsrichter: "Ich habe noch keine Zeit gehabt, meine Tat zu bereuen, aber wenn ich es eines Tages tue, werde ich Sie davon in Kenntnis setzen."
AVIVA-Tipp: Mit der Neuveröffentlichung von Albertine Sarrazins "Astragalus" wurde ein Schatz gehoben: Protagonistin Anne ist so eigenwillig, liebenswert und unkonventionell, ihre Unerschütterlichkeit so berührend, dass frau bereits nach wenigen Seiten Patti Smiths Bewunderung teilt. Sich von der Poetin unter den Rockmusikerinnen persönlich erzählen zu lassen, wie sie sich die raue Romantik des Romans bei Nacht mit kannenweise schwarzem Kaffee erschloss, ist dabei ein zusätzliches, enorm persönliches Geschenk.
Zur Autorin: Albertine Sarrazin wurde 1937 unter dem Namen Anne-Marie Albertine Damien in Algier geboren. Mit achtzehn Monaten adoptierte sie ein französisches Ehepaar, ihre leiblichen Eltern lernte sie nie kennen. Ein Mitglied der Familie ihres Adoptivvaters vergewaltigte Albertine im Alter von zehn Jahren. Ihre Eltern schickten das traumatisierte Mädchen daraufhin in eine Besserungsanstalt, wo sie vernachlässigt und gedemütigt wurde. Am Tag ihrer mündlichen Abiturprüfung floh sie und schlug sich in der Folgezeit gemeinsam mit einer Komplizin mit Prostitution und Diebstahl in Paris durch. Ein bewaffneter Raubüberfall des Duos sollte nicht ohne Konsequenzen bleiben: Albertine wurde verhaftet und zu sieben Jahren Jugendhaft verurteilt. Mit neunzehn Jahren glückte ihr die Flucht, die sie in "Astragalus" verarbeitet. Auch im wirklichen Leben lernte sie als schwer verletzte Flüchtige ihren späteren Mann Julien Sarrazin kennen. In ihren acht Ehejahren wurden beide immer wieder wegen Diebstählen und anderen Delikten verhaftet. Neben dem Roman "Astragalus", der auf Notizen basiert, die Albertine während ihrer Inhaftierung anfertigte und der in sechzehn Sprachen übersetzt wurde, verfasste sie zwei weitere Werke namens "Kassiber" ("La Cavalle") und "Stufen" ("La Traversière"). Sie starb wenige Monate vor ihrem dreißigsten Geburtstag nach einer Nierenoperation.
Weitere Infos zur Autorin auf: www.fembio.org
Albertine Sarrazin
Astragalus
Originaltitel: L`Astragale, erstmals erschienen 1965
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Hanser Verlag, Berlin, erschienen 2013
Gebunden mit Schutzumschlag, 240 Seiten
19,90 Euro / eBook 15,99 Euro
ISBN 978-3446241480
Weitere Infos unter: www.hanser-literaturverlage.de
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