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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 27.02.2013


Almudena Grandes - Der Feind meines Vaters
Julia Lorenz

Geschichtsstunde bei Profesora Grandes: Die spanische Autorin lässt aus Sicht eines neunjährigen Freigeists die Schrecken der Franco-Diktatur wiederauferstehen und verhilft einem legendären...




...Widerstandskämpfer zu neuer Aufmerksamkeit.

Wer vom kleinen Ort El Escorial nahe Madrid den Bus Richtung Valle de los Caídos, zu Deutsch Tal der Gefallenen nimmt, lässt sich auf eine besondere Lektion in Sachen Geschichtsbewältigung ein: Schon von Weitem sichtbar, thront ein gigantisches Mausoleum, das der spanische Ex-Diktator Francisco Franco bereits zu Lebzeiten zur Verherrlichung seiner faschistischen Diktatur erbauen ließ, hoch in den Bergen. Offiziell im Gedenken an die Opfer des Spanischen Bürgerkriegs errichtet, dient das Monument vor allem als pompöses Grab für José Antonio Primo de Rivera, Gründer der faschistischen Bewegung Falange Española, und Franco selbst.

Bei einer Besucherin aus einem Land, das die Spuren von Nazideutschland auch noch nach sechs Jahrzehnten prägen, ruft so viel Pathos für zwei Tyrannen Fassungslosigkeit hervor. Neben dem unguten Gefühl, durch eine Pilgerstätte für NeofaschistInnen zu schreiten, macht vor allem eines sprachlos: Die Gräber der beiden Ex-Diktatoren sind mit frischen Blumen geschmückt. Ist dies fast achtunddreißig Jahre nach der Demokratisierung Spaniens zu rechtfertigen? Almudena Grandes´ neuer Roman "Der Feind meines Vaters" gibt darauf eine vierhundert Seiten starke Antwort.

Kindheit zwischen den Fronten

Im Jahr 1947 ist der Bürgerkrieg zwischen RepublikanerInnen und NationalistInnen in Spanien offiziell seit acht Jahren beendet – im andalusischen Dorf Fuensanta de Martos scheint er jedoch ewig anzudauern. Dort lebt der kleine Nino, Sohn eines Polizisten der Guardia Civil und Erzähler des Romans, mit seiner Familie in einer wenig kinderfreundlichen Kaserne. Sein spartanisches Leben im spanischen Hochland, zum damaligen Zeitpunkt Rückzugsort für PartisanInnen und Guerilla-KämpferInnen, ändert sich maßgeblich durch die Bekanntschaft mit Pepe, genannt "Der Portugiese". Der junge Mann, der in eine leerstehende Mühle gezogen ist, wird für Nino zum Freund und zur Identifikationsfigur: Pepe, Dandy und Freigeist, der - so unabhängig wie eigenbrötlerisch - deklariert "Männer wie ich heiraten nicht", stellt das Gegenteil zur Welt der Guardia Civil dar, gegen die Nino sich instinktiv sträubt.

Neben dem "Portugiesen" und der Lektüre von Jules-Verne-Romanen beschäftigt den neunjährigen Protagonisten im ereignisreichen Sommer 1947 vor allem eine Person: Cencerro, ein kommunistischer Widerstandskämpfer und der "stärkste, mutigste und klügste Mann", von dem Nino jemals gehört hat, raubt Regimevertreter aus, um anschließend Geldscheine mit der Inschrift "So zahlt Cencerro" als Manifest und Warnung zu hinterlassen. Almudena Grandes beruft sich dabei auf eine historische Person: Tomás Villén Roldán, so Cencerros bürgerlicher Name, narrte als Robin-Hood-artiger Guerillero die Guardia Civil und die Armee in der Provinz Jaén bis zu seinem Tod.

Furcht und Feindbilder

Im Zuge der sich überschlagenden Ereignisse Ende der 1940er Jahre wird Nino klar, dass sein traumatisierter Vater ihm kein Vorbild mehr sein kann - für den Jungen steht fest, dass er nicht zur Guardia Civil möchte. Seine Familie hat dieses Vorhaben ohnehin bereits für gescheitert erklärt: Da der Sprössling zu klein für sein Alter ist, soll er Schreibmaschine lernen, um zumindest für einen Bürojob ausreichend qualifiziert zu sein. Aus diesem Grund beginnt er, Unterricht auf dem Hof der "Rubias" zu nehmen, wo eine Familie alleinstehender, verwitweter und verwaister Frauen gegen die harten Lebensbedingungen und die soziale Stigmatisierung ankämpft - denn die Rubias sind "Rote" und somit Gegnerinnen des Regimes. Nino erkennt, dass er sich entscheiden muss, ob die "FeindInnen seines Vaters" auch die seinen sind.

Almudena Grandes´ Kunstgriff, die Schrecken der Diktatur aus Sicht eines Kindes zu schildern, ist sicherlich keine neue Idee. Dennoch gelingt es ihr, vor allem die beinahe zur Normalität gewordene, latente Furcht, die Nino in Form von nächtlichen Schreien durch die dünnen Kasernenwände begleitet, greifbar zu machen. Auch zeigt das Einzelschicksal, dass die ideologischen Grabenkämpfe der damaligen Zeit nicht nur das Land, sondern auch Familien entzweiten. Grandes´ junger Protagonist denkt und handelt bemerkenswert bedacht und bewusst - bisweilen beinahe zu naseweis. Doch Grandes vergisst nicht, eventuellen Glaubwürdigkeitsproblemen, die Ninos Fähigkeit zu Analyse und Reflexion hervorruft, dessen kindliche Begeisterungsfähigkeit entgegenzusetzen: Politisch brisante Szenen wechseln sich mit der überschwänglichen Schilderung eines Mittagessens mit Pepe ab. Für ein Kind ohne Kindheit gelten andere Regeln.

Schade um die schönen Frauen

Die große Stärke der Autorin - ihre Genauigkeit und Detailverliebtheit - gerät im Verlauf des Romans hin und wieder zur Stolperfalle: Streckenweise wartet "Der Feind meines Vaters" mit derart vielen Nebenfiguren, Parallelhandlungen und Anekdoten auf, ohne erzählerisch recht voranzukommen, dass die Leserin sich auf dem Schoß der Großmutter wähnt, die sich in Erinnerungen an vergangene Zeiten verliert. Zudem fragt frau sich mit der Zeit, warum ausgerechnet im Werk einer zeitgenössischen Literatin vom Rang einer Señora Grandes Schönheit und Beinlänge jedes weiblichen Haupt- oder Nebencharakters in allen Einzelheiten diskutiert und in einigen Fällen gar hämisch kommentiert werden müssen. Ein derartiges Interesse - oder tatsächlich eher Desinteresse - am anderen Geschlecht fordert ein gerade einmal neunjähriger Protagonist nicht zwingend.

Trotz einiger Längen und kleiner Schwächen ist Almudena Grandes´ neues Werk ein wichtiger Roman. Immerhin fand eine grundlegende Aufarbeitung der Franco-Zeit auf der iberischen Halbinsel fast drei Jahrzehnte lang nicht statt. Eine Auseinandersetzung mit dem Thema aus einer ungewöhnlichen Perspektive - nämlich der eines jungen Menschen, den die Unterdrückung des faschistischen Regimes zunehmend prägt und radikalisiert - ist somit so interessant wie zwingend erforderlich. Spanien hat viel nachzuholen, und solange AutorInnen wie Almudena Grandes ihren Beitrag dazu leisten, dürfen sie gern die detailversessenen ChronistInnen geben. Vielleicht holt "Der Feind meines Vaters" ein paar Blumen von Francos Grab.

AVIVA-Tipp: "Eine der besten Autorinnen unserer Zeit" ist Grandes laut Mario Vargas Llosa. Mit ihrem neuen Werk schafft sie einen Roman, der sich - entgegen aller Trends der zeitgenössischen Literatur - viel Zeit nimmt: Zeit für historische Korrektheit, Zeit für die Entwicklung seines Protagonisten und dessen Gefühlswelt. Viel Zuneigung und Verständnis für die Charaktere vermeiden Polemik und eindimensionale Urteile, wobei die Literatin leider oft einen längeren Atem als das Gros der LeserInnenschaft zu haben scheint.

Zur Autorin: Almudena Grandes wurde 1960 in Madrid geboren und studierte Geografie und Geschichte an der namhaften Universidad Complutense in der spanischen Hauptstadt. Schon ihr erster, 1989 erschienener Roman "Lulu" wurde ein internationaler Bestseller, das Folgewerke "Malena" war nicht minder erfolgreich. Bereits mit "Das gefrorene Herz" setzte sie sich mit dem Spanischen Bürgerkrieg und dem Franco-Regime auseinander. Grandes´ bisheriges Werk wurde unter anderem mit dem Premio Julián Besteiro ausgezeichnet.
Weitere Infos zur Autorin unter: www.almudenagrandes.com

Almudena Grandes
Der Feind meines Vaters

Originaltitel: El lector de Julio Verne, erschienen 2012
Aus dem Spanischen von Roberto de Hollanda
Carl Hanser Verlag, München, erschienen 2013
400 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag
19,90 Euro / eBook 15,99 Euro
ISBN 978-3-446-24125-1

Weitere Infos unter: www.hanser-literaturverlage.de

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Julia Lorenz