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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 18.12.2012


Corinna T. Sievers - Schön ist das Leben und Gottes Herrlichkeit in seiner Schöpfung
Claire Horst

Kaum zu ertragen in seiner schonungslosen Brutalität, erzählt dieser Roman die wahre Geschichte eines Mädchens, das in den siebziger Jahren in der westdeutschen Provinz aufwächst. Tochter einer...




... Alkoholikerin, die kaum weiß, wie sie die Familie ernähren soll, durch eine Mehrfachbehinderung zum Opfer von Ausgrenzung und Misshandlung geworden, hat die kleine Ute eigentlich schon von Anfang an keine Chance. Schon deshalb sollte dem Klappentext eine Warnung für alle potentiellen LeserInnen vorangestellt sein: Für selbst von Missbrauch Betroffene dürften die von dem Buch ausgelösten Emotionen kaum zu ertragen sein.

Kurz nach der Geburt ist der Vater verschwunden, hat die Mutter eine Beziehung mit einem "Onkel" begonnen, der sich mehr für Ute und ihre ältere Schwester Marianne interessiert als für die Mutter. Sexueller Missbrauch wird für die Kinder zur Normalität, auch untereinander, ebenso wie für Ute die Einsamkeit und das Gefühl, nirgendwo dazuzugehören. Einziger Weg, dieses Leben auszuhalten, ist für Ute die Selbstverletzung und der Rückzug in eine Fantasiewelt.

Dabei helfen ihr Bücher zu überleben: "So verging der Winter, und Ute las. Brauchte lange für ihr erstes Buch und begann noch einmal von vorn, staunte angesichts der Welt, in der ihre Heldinnen lebten, mit Vater und Mutter, Sonntagsbraten und weichen Betten. Sie überstand die Vormittage auf dem Pausenhof, das Schubsen und Schreien, `Hasenscharte, Hasenscharte!`, weil sie an ihren Heuboden dachte und die Welt, die dort auf sie wartete, eine Welt, die ihr wirklicher erschien als die eigene."

Als ihre ältere Schwester die Schule beendet und in einem anderen Dorf eine Stelle als Dienstmädchen annimmt, ist Ute auf sich gestellt. Von nun an ist sie den Quälereien des Onkels und der anderen Kinder noch hilfloser ausgeliefert. Was der Klappentext als "Versuch, das eigene Leben selbst in die Hand zu nehmen", als "Rache" an ihren Peinigern bezeichnet, ist ebenso brutal wie die Taten, denen Ute zuvor zum Opfer fiel.

Aus dem allumfassenden Elend und aus der Hilflosigkeit, die Armut, eine bigotte Religiosität und die vollkommene Gleichgültigkeit der Umgebung mit sich bringen, kann Ute auch die Liebe zu ihrem Mitschüler Volkan nicht helfen. Und so bewegt das Buch sich auf ein Ende zu, das ebenso grausam und schwer zu ertragen ist wie die gesamte Geschichte, die es erzählt. Noch unerträglicher wird die Geschichte durch die Beteuerung der Autorin, eine wahre Geschichte zu erzählen. Ihren Text schließt sie mit dem Brief ihrer eigenen Verwandten ab, einer jungen Frau, die die ganze Familie einer Mitschuld anklagt, sie auffordert, ihr Mitwissen einzugestehen und das Schweigen zu beenden. Anders als Ute ist es zumindest dieser Frau gelungen, sich zur Wehr zu setzen.

Es ist ein wichtiges Thema, das Corinna T. Sievers behandelt. Es gibt diese Geschichten, diese Leben, die von Anfang an vorgezeichnet sind, wenn sich nicht eine Hilfe von außen findet, wenn die Gleichgültigkeit nicht aufhört. Die wirkliche "Behinderung", die hier geschildert wird, hat nichts mit Utes Körper zu tun. Sozial behindert ist die gesamte Umgebung, in der sie aufwächst, ist eine Gesellschaft, in der Menschen systematisch zerstört werden.

AVIVA-Tipp: Ob ein solches Buch allerdings wirklich zu einer Veränderung betragen kann, ist fraglich. Sievers will aufrütteln mit ihrer Schilderung, will das Wegsehen beenden. In seiner Radikalität und brutalen Offenheit, in der plastischen Schilderung der unerträglichsten Verletzungen eines Kindes ist es allerdings so schwer zu ertragen, dass es sich nur in mehreren Ansätzen zu Ende lesen lässt und wahrscheinlich bei manchen LeserInnen zu Alpträumen führen wird.

Zu der Autorin/Herausgeberin: Corinna T. Sievers wurde auf Fehmarn geboren und wuchs an der Ostsee auf. Sie studierte Politik, Medizin und Zahnmedizin in Hamburg, Frankfurt und Berlin, hat zwei Kinder und arbeitet heute als Kieferorthopädin in Zürich. Zuletzt erschien ihr Debütroman "Samenklau" (FVA, 2010). (Verlagsinformationen)

Corinna T. Sievers
Schön ist das Leben und Gottes Herrlichkeit in seiner Schöpfung

Gebunden mit Schutzumschlag, 96 Seiten
14,90 Euro
ISBN 978-3-89401-760-6
Edition Nautilus, erschienen August 2012
Weitere Infos unter: www.edition-nautilus.de

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Beitrag vom 18.12.2012

Claire Horst