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Beitrag vom 15.11.2012
Marie NDiaye - Ein Tag zu lang
Sonja Baude
Eine kleine Verschiebung löst eine enorme Irritation aus, die in Fremdheit, düsterer Faszination und Bewegungslosigkeit mündet. Die Sogwirkung, die von dieser frühen Erzählung ausgeht, ist groß.
Nachdem mit "Selbstporträt in Grün" Suhrkamp bereits im vergangenen Jahr ein älteres Werk der Prix Goncourt-Preisträgerin herausbrachte, legt der Verlag nun einen noch früheren Roman, aus dem Jahr 1994, wieder in der sehr überzeugenden Übersetzung von Claudia Kalscheuer, vor.
"Es kam ihm vor, als sei die Kälte mit einem Schlag gekommen, unmittelbar nach dem Mittagessen, gerade als der Lehrer und seine Frau in aller Ruhe beschlossen, erst am nächsten Tag, dem zweiten September, in die Hauptstadt zurückzureisen, etwas später als sonst." Genau genommen einen Tag später als sonst. Aber durch diese minimale Zeitverschiebung und durch den Wetterumschlag ist auch die Ruhe dahin und die Welt nicht mehr die, die sie vormals gewesen zu sein schien. Frau und Kind verschwinden am selben Tag und die alles durchdringende feuchte Kälte wird von nun an tief hineinkriechen in Herman, der sich auf die Suche nach seiner Familie macht. Obwohl von den Dörflern, mit seiner dringenden Bitte um Hilfe, abgewiesen, wird er immer weiter hineingezogen in eine eigenartig surreale Gesellschaft, von deren undurchsichtigen Verhältnissen er als Sommergast bislang keine Ahnung hatte.
Die DorfbewohnerInnen zeigen sich gänzlich unberührt vom plötzlichen Verschwinden der beiden StädterInnen und geben Herman unmissverständlich zu erkennen, dass er ihnen mit seinem Ansinnen um Aufklärung ein Fremder ist. Gleichzeitig üben sie auf Herman eine groteske Macht aus, die seine Ungeduld bricht und ihn in eine allmähliche Bewegungslosigkeit zwingt, in die er sich widerstandslos fügt. Bald schon wird er die Suche nach Frau und Kind vergessen, als seien die beiden verblasste Trugbilder einer untergegangenen Welt. Und auch wenn die anfängliche Fremdheit, der sich Herman ausgesetzt fühlt, noch nach Wochen bestehen bleibt, so verursacht sie ihm keine Panik mehr, sondern mündet in ein einsames Nichtwollen, das beinahe einer Auflösung seines Charakters gleichkommt, so dass er selbst nach und nach, ebenso wie Frau und Sohn, in einen wesenhaften Zustand übergeht.
Würde mensch diesem Roman eine Farbe zuordnen, so wäre es ein helles Grau, in dem eine von ständigem Regen fast unkenntlich gewordene Landschaft wabert. Darin grelle Figuren, denen irgendwie die Sprache abhanden gekommen zu sein scheint und die nur noch, marionettengleich, allein durch Gesten und Blicke erschreckend unverrückbar agieren, ohne als Menschen greifbar zu werden. Als sei er einem Sog ausgesetzt, mutiert Herman selbst zu einer Art Dorfbewohner, unausweichlich, so als stünde es nicht in seiner Macht, anderes zu tun. Das alles gleicht einem Alptraum. Die Alternativlosigkeit steht außer Frage. Und so werden die LeserInnen selbst in diese Landschaft geformt, in der der Himmel tief hängt und keinen Blick nach außen freigibt.
Bestechend ist die Präzision, mit der Marie Ndiaye diese zutiefst beunruhigende Erstarrung fasst, mit einer Sprache, die sich um jedes Detail sorgt, als sei sie selbst aus der Welt gefallen, hinein in eine beängstigend flirrende Stille.
AVIVA-Tipp: Marie NDiayes "Ein Tag zu lang" gleicht einem unablässlichen Mahlstrom, der die LeserInnen in eine rätselhafte Welt reißt, aus der Wärme, Licht und Vertrautheit ganz gewichen sind – ein Unbehagen breitet sich aus. Auch in diesem Roman zeigt sich Marie Ndiayes meisterhafte Erzählkraft.
Zur Autorin: Marie NDiaye wurde 1967 als Tochter einer französischen Mutter und eines senegalesischen Vaters in Pithiviers bei Orléans geboren. Im Alter von 17 Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Roman. Seitdem schrieb sie eine Vielzahl weiterer Romane und Theaterstücke. Seit 2007 lebt sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Berlin, wohin sie aus Protest gegen die Politik von Nicolas Sarkozy umsiedelte. Für den Roman "Drei starke Frauen" wurde sie 2009 mit dem Prix Goncourt, dem wichtigsten farnzösischen Literaturpreis und 2010 mit dem Internationalen Literaturpreis ausgezeichnet.
Zur Übersetzerin: Claudia Kalscheuer wurde 1964 geboren und lebt heute zwischen Berlin und Arles. Seit 1995 übersetzt sie Literatur aus dem Französischen, u. a. Werke von Alexander von Humboldt, Véronique Ovaldé, Marcelle Sauvageot, Jules Verne, Irène Némirovsky und Gabrielle Wittkop. 2002 wurde sie mit dem André-Gide-Preis ausgezeichnet und 2010 für die Übersetzung von "Drei starke Frauen" mit dem Internationalen Literaturpreis.
Marie NDiaye
Ein Tag zu lang
Originaltitel: Un temps de saison
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer
Suhrkamp Verlag, erscheinen Oktober 2012
128 Seiten
ISBN: 978-3-518-42333-2
17,95 Euro
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Selbstporträt in Grün von Marie NDiaye
Drei starke Frauen von Marie NDiaye
Der Internationale Literaturpreis 2010 geht an Marie NDiaye, der ÃœbersetzerInnenpreis an Claudia Kalscheuer