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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 01.11.2012


Christa Wolf - August
Ingeborg Morawetz

August ist alt. August fährt einen Bus. Und Christa Wolf erzählt uns, wohin ihn währenddessen seine Gedanken und Erinnerungen treiben. Verstehen Sie diese Worte als ausdrückliche Empfehlung.




Wenn Sie ihr ungefragt Glauben schenken, lesen Sie weiter.

Bringen Sie dieses Büchlein in Ihren Besitz. Sobald 38 gedruckte Seiten für eine Weile zu Ihrer Verfügung stehen und die finanziellen und geographischen Rahmenbedingungen es erlauben, stellen Sie sicher, dass Sie, das Buch mit sich führend, am Rande von Berlin in ein öffentliches Verkehrsmittel steigen, das zum Alexanderplatz fährt. Die Fahrzeit sollte zwanzig bis dreißig Minuten betragen. Ein Bus ist am geeignetsten, aber auch eine S- Bahn erfüllt ihren Zweck - solange Sie die Abendstunden meiden, in denen Ihnen kein Platz und keine Ruhe gegeben sind.

Stehen oder sitzen Sie, aber achten Sie darauf, nicht über ein gewöhnliches Maß hinaus abgelenkt zu sein. Nehmen Sie das Buch, das einer kartonierten Broschüre gleicht, zur Hand und lesen Sie in weinroten Lettern auf taubenblauem Grund: "Christa Wolf - August" auf dem Titelblatt. Verschwenden Sie nicht zu viele Augenblicke daran, zu spüren wie angenehm sich der strukturierte Einband anfühlt. Sie haben nun etwas mehr Zeit als eine mittellange Schulpause, um an Ihr Ziel zu gelangen. August teilt dieses Ziel, und er wird den Weg mit Ihnen fahren. Er aber startet in Prag, als Busfahrer kutschiert er TouristInnen zurück in die Heimat, und er wird einen regulär langen Arbeitstag dafür benötigen. Währenddessen wird er an beiden Enden Ihrer Fahrt ziehen, sie still und ruhig dehnen, seine acht Stunden in Ihre halbe legen und vielleicht, wenn Sie für die Erzählung empfänglich sind, auch unaufdringlich all seine Lebensjahre darin unterbringen.

Christa Wolf schrieb Augusts Geschichte ein halbes Jahr vor ihrem Tod im Dezember 2011. Im Anhang des Buches gibt die Photographie eines Briefes Zeugnis davon, dass die Erzählung Wolfs Mann Gerhard zugedacht ist.
Das erklärt den vertrauten Ton, die gefühlvollen Schilderungen und den lakonischen Gleichmut, die in der Erzählung vorherrschen. Zumindest ein wenig. Die Worte sind schlicht und unspektakulär gewählt, die Übergänge im Erzählen eben und sanft. Die Handlung ist mit zwei Silben zu benennen: August. Mit genau solcher Direktheit fabuliert Christa Wolf über diesen Mann, dem nichts Aufregendes zustößt. August ist nicht ungewöhnlich. Kein Romanheld trägt diese letzte Erzählung der bekannten Autorin, sondern die Sicherheit und Ruhe eines zurückliegenden Lebens.

Und dennoch kann es Ihnen passieren, dass Sie auf den ersten Seiten des Buches die Ahnung überkommt, einer zu oft gelesenen Effekthascherei oder gefühlsduseligen Sentimentalität aufzusitzen. Eben weil in dieser Geschichte kaum etwas geschieht, weil Sie einem Mann beim Erinnern zuhören. Und es kann sein, dass sich diese Einschätzung bis zu Augusts und Wolfs letztem Wort nicht ändert.

Doch wenn Sie sich, den plüschbespannten Bussitz im Rücken, auf Wolfs weiches Strickmuster des Erzählens einlassen, ab und an den Kopf heben, flüchtig Straßenzüge, Kindergruppen und Parkanlagen vor den Fenstern wechseln sehen und es Ihnen gelingt, nur ganz ungefähr im richtigen Moment - und den werden Sie erkennen - am Alexanderplatz auszusteigen, werden Sie zum Ärgernis. August hat Sie in seinem Bann und zwingt Sie, seine Geschichte zu beenden, wo auch immer Sie gelandet sind.

Zur Autorin: Christa Wolf wurde 1929 in Landsberg/Warthe (Gorzów Wielkopolski) geboren und lebte in Berlin und Woserin, Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen, darunter dem Georg-Büchner-Preis, dem Thomas Mann Preis und dem Uwe-Johnson-Preis, ausgezeichnet. Sie verstarb 2011 in Berlin.

AVIVA-Tipp: Christa Wolfs Erzählung ist fast ein wenig zu privat, ein bisschen zu leise und eine Spur zu melancholisch, als dass die LeserInnen ihrem Charme nicht erliegen würden. Wer August mag, kann ihm in Wolfs Roman "Kindheitsmuster" noch einmal begegnen.

Christa Wolf
August

Suhrkamp, Oktober 2012
Klappenbroschur, 38 Seiten
ISBN: 978-3-518-42328-8
14,95,- Euro
www.suhrkamp.de


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Beitrag vom 01.11.2012

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