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Beitrag vom 29.10.2012
J.K. Rowling - Ein plötzlicher Todesfall
Britta Meyer
Mitten auf dem Parkplatz des Golfclubs fällt Barry Fairbrother eines Abends tot um. An seinem Hochzeitstag und vor Augen der halben Gemeinde. Schlimm für seine Familie, aber noch viel schlimmer...
... für das Örtchen Pagford.
Barry´s Tod wird innerhalb von Stunden vom menschlichen Unglück zu etwas ganz anderem: einer Möglichkeit, Macht zu erlangen. Denn sein Ableben hinterlässt einen leeren Posten im Gemeinderat, um den sich auch flugs eine konkurrierende Handvoll von AnwärterInnen bewirbt. Hauptthema des Wahlkampfes: soll der unschöne Schandfleck des Ortes, die leidige Drogenentzugsklinik Bellchapel, bleiben oder gehen?
Schon Sherlock Holmes - und jeder aus der Kleinstadt geflohene Mensch - wusste, dass sich in Provinzörtchen auf engem Raum mehr ätzende Bösartigkeit, Missgunst und Gewaltpotenzial sammelt, als in der großen bösen Metropole. Rowling greift sich eine imaginäre englische Kleinstadt und gräbt ihre Abgründe der Klassengesellschaft aus. Menschen der mal mehr, mal weniger gehobenen Mittelklasse gehen sich in Pagford für ein Bröckchen Einfluss im Gemeindegremium gegenseitig an die versnobte Gurgel und pflegen nebenbei sorgfältig ihre persönlichen Laster und finsteren Geheimnisse variierender Härtegrade: Rassismus, Affären, Diebstahl, häusliche Gewalt, Alkoholismus und pädokriminelle Phantasien.
Bei alledem haben sie immer noch jemanden, über den sie gemeinschaftlich genüsslich die Nase rümpfen können: die arbeitslose Unterschicht aus dem Ortsteil Fields, insbesondere die Familie Weedon. Deren halbwüchsiger Sprössling Krystal ist der schlimmste Alptraum aller wohlsituierten Eltern: ungebildet, gewalttätig, wütend und vulgär.
"´Ich hab ihm gesagt, dass ich nicht gelacht hab, ich hab´s ihm gesagt! Und trotzdem hat er mir scheiß Nachsitzen aufgebrummt.´
Tränen der Wut schimmerten in den stark geschminkten Augen des Mädchens. Hitze war ihr ins Gesicht gestiegen, sie funkelte Tessa an, bereit aufzuspringen, zu fluchen, Tessa den Stinkefinger zu zeigen. Das in zwei Jahren mühselig zwischen ihnen aufgebaute hauchdünne Vertrauen stand kurz vor der Zerreißprobe."
Nicht, dass die Kinder aus den komfortablen Einfamilienhäusern besser wären. Wenn sie nicht gerade hinter dem Schulklo kiffen oder ungeschützten Sex mit Krystal haben, hacken sie sich in die Website des Gemeinderats und posaunen unter falschem Namen die dreckigen Geheimnisse ihrer Eltern hinaus.
Bald beschuldigen NachbarInnen sich untereinander und je näher die Wahl rückt, umso mehr blättert jede noch so dünne Schicht Zurückhaltung ab...
Die Mittelschicht ist der neue Voldemort
Während der Schrei "Nicht meine Tochter, du Schlampe!" im letzten Harry-Potter-Roman noch als einzige derbe Beschimpfung der gesamten Buchreihe schocken konnte, geht es in "Ein plötzlicher Todesfall" von Anfang an in die Vollen: Erbrochenes, Selbstverletzung, deprimierende Sexszenen, Mobbing, Exkremente überall und Four-Letter-Words im Seitentakt. Die Botschaft ist überdeutlich und Rowling scheint sie den Lesenden förmlich entgegen zu brüllen: "Das ist kein Kinderbuch!" Fragt sich jedoch, in was für einer Geschichte mensch hier eigentlich gelandet ist – einem Krimi? Einem Familiendrama? Einer Gesellschaftssatire? Das Ganze ist so stark und mit allen Mitteln auf Sozialstudie gebürstet, dass die Szenerie der Provinzhölle holzschnittartig wird und die anfangs noch interessant und lebendig aufgebauten Charaktere zu klischeebeladenen Abziehbildern geraten.
AVIVA-Fazit: Rowling kann wunderbar und mit viel Liebe zu schrägen kleinen Details und pointiertem Wortwitz eine spannende Geschichte erzählen. Dazu muss sie aber erst einmal eine Story haben. "Ein plötzlicher Todesfall" hält sich zu sehr damit auf, möglichst hart und erwachsen sein zu wollen, um wirklich etwas zu sagen.
Zur Autorin: Joanne K. Rowling, geboren 1965 in Yate, studierte Französisch und Altertumswissenschaften an der University of Exeter und arbeitete als Englischlehrerin und Bürokraft, bevor sie 1997 "Harry Potter und der Stein der Weisen" veröffentlichen konnte. Bis zum Jahr 2007 brachte sie die sieben Bände der Harry-Potter-Reihe heraus, die in über 65 Sprachen übersetzt wurden und über 400 Millionen Male verkauft wurden.
Mehr Infos unter: www.jkrowling.com
Zu den Ãœbersetzerinnen:
Susanne Aeckerle, geboren 1942 in Lindau, machte eine kaufmännische Lehre und war 1975 Mitbegründerin des ersten deutschen Frauenbuchladens in München. Später leitete sie einen Schallplattenvertrieb, gab eine Frauenmusikzeitschrift heraus und war von 1981 bis 1990 Redakteurin und Chefin vom Dienst der "EMMA". Sie arbeitet zur Zeit als freie Lektorin, Übersetzerin und Herausgeberin. Sie übersetzte unter anderem "Lügen auf Albanisch", "Die letzte Konkubine" und "Die Jahre der Veränderung" (Quelle: Verlagsinformationen)
Marion Balkenhol wurde 1950 in Wuppertal geboren und studierte Übersetzung an der Universität Heidelberg. Sie übertrug unter anderem die Romane "Ayla und das Lied der Höhlen", "Der Granatapfelgarten" und "Der Toten tiefes Schweigen" ins Deutsche (Quelle: Verlagsinformationen)
Joanne K. Rowling
Ein plötzlicher Todesfall
Originatitel: The Casual Vacancy
übersetzt von Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol
Carslen Verlag, erschienen September 2012
Hardcover mit Schutzumschlag
576 Seiten
ISBN: 978-3-551-58888-3
24,90 Euro
www.carlsen.de
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