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Beitrag vom 04.10.2012
Obsessionen. R. B. Kitaj - 1932-2007
Sharon Adler
Anlässlich des 80. Geburtstags des großen Künstlers widmet ihm das Jüdische Museum Berlin die erste große Retrospektive seit 14 Jahren. Der gleichnamige Begleitband dokumentiert sein Werk und die...
... innere und äußere Entwicklung Kitajs, der zeitlebens Fragen nach Identität und Diaspora in den Mittelpunkt seiner Kunst stellte.
R. B. Kitaj wurde 1932 in Chagrin Falls bei Cleveland, Ohio, als Sohn von Jeanne Brooks, Tochter russisch-jüdischer EmigrantInnen geboren. Als seine Mutter 1941 den 1938 in die USA emigrierten Wiener Juden Walter Kitaj heiratet, nimmt R. B. dessen Namen an. Aus Ron Brooks wird fortan R. B. Kitaj.
1949 heuert R. B. Kitaj zunächst auf dem Frachtdampfer SS Corona an.
Unterbrochen nur von seinem Studium an der Cooper Union for the Advancement of Science and Art und an der Akademie der Bildenden Künste in Wien, arbeitet er immer wieder als Seemann auf Handelsschiffen. So ist sein Werk "Homage an Herman Melville" (Öl auf Leinwand) aus dem Jahr 1960 in vielerlei Hinsicht zu deuten:
"Das Herman-Melville-Bild gehört zu den ersten, die ich am College malte. Melville war ein Teil meiner Jugend gewesen und hatte mich in dem Entschluss befeuert, die Art School in New York zu verlassen und als Matrose zur See zu fahren, mich also als 17-Jähriger in ein heimatloses Leben zu werfen, als eine Art doppelter Diasporist" (R. B. Kitaj, 1988)
Kitaj, der gemeinsam mit seinen Künstlerfreunden Frank Auerbach, Lucian Freud und Leon Kossoff als einer der Wegbereiter einer neuen figürlichen Kunst der 1960er-Jahre angesehen werden kann, war ein säkularer Jude, der sich als einer der wenigsten Künstler überhaupt dennoch intensivst damit auseinander setzte, was jüdische Kunst ausmacht und wie sie aussehen könnte.
"Kafka, Proust, Freud, Wittgenstein, Benjamin, Celan Etc. verließen Europa nicht.
Sie schrieben in der Sprache ihres Gastlandes! Also erfindet man in der Kunst die Tradition eines Gastlandes (Giotto-Mattise) auf diese Weise neu und durchtränkt sie mit dem, was man ist!" (R. B. Kitaj, 2004, Paul Celan, Black Flakes, 2006)
Vor allem die Lektüre der Werke Hannah Arendts und ihrem Bericht über den Eichmann-Prozess bewirkten seine Hinwendung vom verborgenen zum öffentlichen Juden. Und erneut wurde er so zum Außenseiter - das große Thema seines Lebens. In der Rolle eines einerseits indirekten und gleichzeitig direkt involvierten Beobachters griff er politische und kulturelle Entwicklungen auf und verarbeitete sie in seinen Werken – eine stetige Wechselwirkung, geprägt von gegenseitiger Inspiration und Bedingung von Kunst und Leben – oder: Leben und Kunst.
Die Philosophie und Arbeitsweise R. B. Kitajs wird in den zehn Kapiteln des Katalogs beziehungsweise den zehn Räumen der Ausstellung beinahe körperlich erfahrbar, wobei die Titel für sich selbst stehen: Betitelt sind sie mit "Eine fragmentierte Welt", "Katalonien – Schlüsselerlebnis des Diasporischen", "Kitaj – Kommentator seiner Zeit", "Freunde", "Galerie der Charaktertypen", "Der verborgene und der öffentliche Jude", "Entstellte Körper", "Obsessionen", "Die Bibliothek als diasporische Heimat" und schließlich mit "Rückzug".
AVIVA-Tipp: Am 29. Oktober 2012 wäre R. B. Kitaj 80 Jahre alt geworden. Er zog es vor, freiwillig aus diesem Leben zu gehen, acht Tage vor seinem 75. Geburtstag.
Das Jüdische Musum Berlin und der Kerber Verlag haben seinem Lebenswerk mit der Ausstellung und dem Katalog ein würdiges Denkmal gesetzt. In zehn Räumen zeigt das Jüdische Museum Berlin eine sorgfältig komponierte Gesamtschau dieses außergewöhnlichen Künstlers, geordnet nach miteinander verwobenen und dennoch chronologisch angeordneten Themenkomplexen. Der die Ausstellung begleitende Katalog schließlich rundet diese Hommage an Kitaj ab. Besonders hervorzuheben ist dessen Gestaltung: Aufklappbare Doppelseiten offenbaren die Entstehung und Hintergründe des Künstlers, der Neues erschuf, indem er Themen und Motive fragmentarisch durch Bilderrätsel aufgriff, interpretierte, und so einen Kontext schuf, der Fragen nicht nur aufwirft, sondern diese auch – individuell interpretierbar - beantwortet.
Obsessionen. R. B. Kitaj
1932-2007
Herausgegeben von: Jüdisches Museum Berlin
Grußwort: Cilly Kugelmann und Hubertus Gaßner
mit Beiträgen von u. a.
Tracy Bartley, Inka Bertz, Edward Chaney, Roman Martin Deppner, Michal Friedlander, Eckhart Gillen, Cilly Kugelmann, David N. Myers
Gestaltung: e o t . essays on typography, Lilla Hinrichs + Anna Sartorius
Kerber Verlag, erschienen September 2012
ISBN: 978-3-86678-697-4
Format: 22,50 × 31,00 cm
264 Seiten, 203 farbige und 65 s/w Abbildungen
Rücken in Leinen gebunden, Cover: Hardcover, gebunden
48,00 Euro (59,90 CHF) (Portofrei innerhalb Deutschlands)
Kerber Verlag
Es ist auch eine englische Ausgabe unter der ISBN 978-3-86678-731-5 erhältlich.
Weitere Informationen finden Sie unter:
www.jmberlin.de/kitaj
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
R. B. Kitaj (1932-2007): Obsessionen. Die Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin vom 21. September 2012 – 27. Januar 2013