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Beitrag vom 26.09.2012
Paul Celan, Gisela Dischner - Wie aus weiter Ferne zu Dir
Ingeborg Morawetz
Der Briefwechsel einer jungen Studentin mit dem Dichter und ehemaligen Lagerhäftling Paul Celan wird zu einer politischen und poetischen Reise, auf der beide viel von sich preisgeben.
Der Schriftsteller und Dichter Paul Celan und die Germanistik- und Philosophiestudentin Gisela Dischner korrespondierten von 1964 bis zu seinem Tode im Jahre 1970 in 121 Briefen. 89 fanden ihren Weg von der jungen Frau zu dem schon alternden Poeten, nur 32 erhielt sie von ihm zur Antwort.
In einer reich kommentierten und mit Photographien von Originalzeugnissen versehenen Ausgabe wird dieser Briefwechsel von Barbara Wiedemann herausgegeben, über ein halbes Jahrhundert nach seinem Ende durch den Selbstmord des Autors.
Der schriftliche Austausch nahm seinen Anfang mit einer Anfrage für eine Lesung. Gisela Dischner, an ihrer Hochschule in München literarisch und politisch engagiert, besuchte den neunzehn Jahre älteren Celan in Paris, um ihn zu bitten, an einer Veranstaltung im "Theater an der Leopoldstraße" mit einer Präsentation seiner Gedichte teilzunehmen. Zu der Lesung erschien Paul Celan trotz vorangegangener Zusage nicht, doch aus dem kurzen Treffen mit einer nachfolgenden Einladung zum Abendessen entwickelte sich trotzdem eine enge Beziehung der beiden, die auf zahlreichen Ebenen spielte.
Der Titel des Werkes ist ein Zitat aus dem ersten Brief, in dem Dischner Celan mit "Du" anspricht. Die Korrespondenz in "Wie aus weiter Ferne zu Dir" lebt von dem, was Dischner in diesem ersten vertraulichen Dokument vorwegnimmt, von Entfernung und Abwesenheit, von der Sehnsucht zweier im Geiste Verwandter nach Nähe. Nach den ersten förmlichen Anschreiben scheint die junge Frau dem Dichter, dessen Werke sie verehrt und dieser Bewunderung regen Ausdruck verleiht, schnell ihr Herz zu öffnen. Von Brief zu Brief, unterbrochen von persönlichen Gesprächen, teilt sie ihm mehr von ihren Gedanken und Empfindungen zu privatem und öffentlichem Leben mit. Unverblümt äußert sie ihre Meinung. Dass sich Paul Celan, dessen Vergangenheit und Gegenwart sich durch die Erfahrung des zweiten Weltkrieges, den im Konzentrationslager erlittenen Qualen und eine omnipräsente psychische Erkrankung so stark von ihrer unterscheidet, sich in seinen Antworten oft ebenso unverhohlen in knapper, nüchterner Kritik an ihren Wertungen und Eindrücken ergeht, bremst sie nicht in ihrer vertrauensseligen Mitteilsamkeit.
Meist bleiben ihre Zeilen an ihn ohnehin unerwidert, Paul Celans Antworten sind vor allem in der Anfangszeit der Korrespondenz spärlich gesät. Wenn er an Dischner schreibt, so sind es neben Anmerkungen zu ihren politischen Ansichten oft Verse und kurze Gedichte. Einmal erhält sie Nachricht von ihm auf einer Visitenkarte, ein anderes Mal nur die Worte: "Paul Klee, der da stillebte am Schalttag – P.C."
Zwischen den Unterhaltungen in Briefen fanden Treffen und Telefonate statt, auf die sich vor allem Dischner oft melancholisch bezieht. Was sie sprachen, wenn sie sich besuchten, in München, Paris, Frankfurt und London , bleibt den LeserInnen verschlossen. Doch die Briefe vermitteln den Eindruck, dass sich die junge Studentin und der Dichter, der oft unter depressiven Stimmungen litt, unter der Vereinbarung eines ungesagten Abkommens austauschten. Sie berichtet und erzählt, bezieht Stellung zu Erlebten und schickte Bücher, Texte, Teile ihrer Dissertation, die in Teilen auch von Celan handelte. Er nahm teil an ihrem Leben, und damit möglicherweise in manchen schweren Zeiten am Leben überhaupt. Oft antwortete er ihr in ihren Worten, modifizierte, was sie ihm mitteilte, formte es um und sendete es ihr zurück, Dischners Ausdruck in Celans Handschrift.
Nur hin und wieder stößt man in seinen Briefen auf konkrete Erwiderungen zu ihren Sehnsuchtsäußerungen. Selten lässt er sie glaubhaft wissen, dass ihm die Gespräche, die Treffen ebenso fehlten wie ihr, nur einmal einen Brief mit einem intimen, schlichten "Du" beginnen. Wären diese eindeutigen Äußerungen der Zuneigung nicht, so könnte die Korrespondenz auch als der schriftliche Erguss einer motivierten, intelligenten Studentin an ihr poetisches Vorbild verstanden werden.
Doch die beiden LiteratInnen sind sich im Austausch ebenbürtig. Im Laufe der Lektüre beginnen die LeserInnen zu spüren, dass die knappen Worte Celans, seine ausbleibenden Antworten und die sprudelnde Lebens- und Mitteilungsfreude Dischners ein eigenes Gleichgewicht haben, das ein großer Beweis für das Vertrauen des zurückgezogenen, von Ängsten belasteten Dichters in die junge Frau ist.
Dischner und Celan thematisieren das Zeitgeschehen, die Notstandsverordnungen in Deutschland, die Aufstände im Jahre 1968 in Paris. Dischner lernt bei Jürgen Habermas und Theodor W. Adorno, schreibt über sie und von ihnen, steht in Kontakt mit Nelly Sachs und arbeitet über Herbert Marcuse. Sie nimmt Bezug auf Martin Heidegger, trifft Peter Handke und immer wieder kommt der Nationalismus, die Wirkungsmacht des Rassismus, der Antisemitismus ins Gespräch, von Dischner mit Entsetzen und Unglauben, von Celan mit Vorsicht und Trauer behandelt.
Eingefügte LeserInnenbriefe, Zeitungsartikel und weitere Veröffentlichungen der beiden PartnerInnen des Briefwechsels machen neben dem umfangreichen Anmerkungsteil und dem Beitrag "Erinnerungen an Paul Celan" von Gisela Dischner, der außerdem eine sehr realistische Darstellung des erkrankten Dichter bildet, aus diesem Abdruck einer poetischen Korrespondenz ein umfangreiches Werk zu Leben und Gesellschaft der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.
Zur Autorin: Gisela Dischner wurde 1939 in Bayern geboren. Sie absolvierte ein Studium der Germanistik, Soziologie und Philosophie. Seit 1973 lehrte sie deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Hannover. Von ihr liegen viele Veröffentlichungen zur Geschichte und Theorie der Literatur, Philosophie und bildenden Kunst vor.
Zur Herausgeberin: Barbara Wiedemann ist Doktorin der Literaturwissenschaft und übt eine Lehrtätigkeit an der Universität Tübingen aus. Sie ist bekannt als Herausgeberin von Werken und Briefen Paul Celans.
AVIVA-Tipp: In den Briefen dominieren nicht nur sprachliche Schönheit und dichterische Einschübe, sie blühen auch durch Zitate, politische Diskussionen und kleine Vertraulichkeiten auf. Allein die Korrespondenz zu lesen nimmt nicht viel Zeit in Anspruch, in Verbindung mit den Anmerkungen und weiteren Anhängen jedoch kann man sich auf mehrere Stunden anspruchsvolle Lektüre freuen. Ein Werk, das in vielen Bereichen Bedeutung gewinnt, und dazu beiträgt ein umfassendes Bild von Paul Celan zu entwickeln.
Paul Celan, Gisela Dischner
Wie aus weiter Ferne zu Dir
Suhrkamp, erschienen September 2012
Gebundene Ausgabe, 280 Seiten
ISBN-13: 978-3518423387
26,95,- Euro
www.suhrkamp.de
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