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Beitrag vom 29.06.2012
Sophia Martineck - Hühner, Porno, Schlägerei. Deutsche Dorfgeschichten
Ulrike Wagener
Mit diesem irritierenden Titel zeichnet die junge Berliner Künstlerin ein schmerzhaft komisches Bild des "typisch deutschen Dorfes". Ein amüsantes Spiel mit Klischees, Stereotypen und der Realität.
Niederböhna, ein typisch deutsches Dorf im 21. Jahrhundert
"Ein Dorf ist ein Ort, welcher aus nicht sehr vielen Häusern besteht, nicht mit Mauern umgeben ist und auch keine Stadtrechte genießt. Die Einwohner desselben heißen Bauern und beschäftigen sich besonders mit dem Ackerbau und mit der Viehzucht, sowie mit allem was zur Landwirtschaft gehört." Diese Definition von Jacob Eberhard Gailer begleitet die Deutschen Dorfgeschichten der jungen Illustratorin. Doch trifft diese Definition heute nur noch die wenigsten DorfbewohnerInnen. Die meisten fahren zur Arbeit in die Stadt.
So ist die Landwirtschaft auch nicht der unmittelbare Mittelpunkt des fiktiven Dorfes Niederböhna, dessen Geschichten Sophia Martineck in ihrem selbst-bezeichneten "Sachbuch mit vielen Bildern" erzählt.
Vielmehr geht es um die kleinen Intrigen, die Irrungen und Wirrungen, die sich in deutschen Landen abspielen. Dafür hat die junge Künstlerin eine ganze Menge Zeitungen gelesen: Alle Geschichten und Ereignisse, so skurril sie manchmal auch erscheinen, basieren auf wahren Begebenheiten und beruhen auf Artikeln deutscher Lokalzeitungen oder mündlicher Überlieferung.
Auf den ersten Blick eine Idylle...
"Jedes deutsche Dorf könnte Niederböhna sein." So lautet das Statement von Sophia Martineck zu ihren Dorfgeschichten. Und die, die sich in deutschen Dörfern ein bisschen besser auskennt, sehen das schon auf der ersten Seite bestätigt. Hier erscheint das Dorf in der Vogelperspektive: Eine rustikale Kirche, ein Friedhof, Fachwerkhäuschen, Gehöfte, ein Traktor und rundherum Feld und Wald. Ganz idyllisch also. Doch auf den folgenden 50 Seiten nimmt die UdK-Schülerin diese Idylle genauer unter die Lupe.
...doch voller Abgründe
Da gibt es die Gang, die das örtliche Bushäuschen in Beschlag genommen hat, ein Mitglied der freiwilligen Feuerwehr, das aus Langeweile zum Brandstifter wird, und natürlich berühmt berüchtigte Feste, auf denen besonders Abwesende für Aufregung und Misstrauen sorgen. Schlagkräftige Unterschriften, Zeitungszitate und Gesprächsfetzen wecken eine Menge Assoziationen und lassen den RezipientInnen viel Platz, die Geschichten weiterzuspinnen. Dabei werden die DorfbewohnerInnen, der von seiner Frau drangsalierte Dorfdepp, der Pornos drehende Eigenbrötler, aber vor allem die UrheberInnen diverser Fremdzuschreibungen gekonnt auf die Schippe genommen. "Fröbels Martin sagt, die Eisners hätten einen Partyraum mit Sauna im Keller." Dieses und andere Gerüchte werden uns sprachlich mitgeteilt und auf der Bildebene artistisch unterlaufen. Um den Witz dieses Buches zu verstehen sollte mensch sich besser nicht zu sehr mit dem Leben in der Provinz identifizieren.
Die Künstlerin wollte für ihr Dorfprojekt die Zwiespältigkeit zwischen der fürsorglichen starken Gemeinschaft, in der jede(r) jede(n) kennt und den Gefahren seiner Enge und Isolation in den Mittelpunkt stellen. Und dieses Ziel drückt sich nicht nur in den Geschichten, sondern vor allem in den Illustrationen aus. Das Zusammenspiel schlichter und zugleich detailreicher Zeichnungen mit einer Auswahl matter, trister Farben wirft gleichzeitig einen Schleier der Langeweile, der Undurchsichtigkeit und der Neugier über die deutsche Provinz. Eine alltägliche Mischung aus Banalem und Tragischem eben. Wie die Künstlerin in einem Interview bemerkt: "Alltag an sich ist manchmal ja auch tragisch irgendwie bzw. die Keimzelle für Tragik." Und diese Keimzelle für Tragik finden wir im Alltag von Niederböhna wieder.
AVIVA-Tipp: Sophia Martineck spielt in "Hühner, Porno, Schlägerei" auf eine kunstvoll zynische Art und Weise mit den verschiedenen Ebenen von Bild und Text. Mal einander ergänzend, mal widersprechend arbeitet sie mit beiden Formen, um das deutsche Landleben zu sezieren. Ihre Zeichnungen als bloße "Illustration" des Textes zu bezeichnen, wäre mehr als untertrieben.
Wer sich auch schon einmal über die Eigenheiten der LandbewohnerInnen gewundert hat, wird mit "Hühner, Porno, Schlägerei" voll auf seine Kosten kommen.
Zur Künstlerin Sophia Martineck wurde 1981 in Naumburg geboren. Sie studierte Illustration an der Universität der Künste Berlin. Während eines Studienaufenthalts in New York entstand ihr Büchlein "New York Prints". Seit 2007 arbeitet sie als freischaffende Illustratorin und Designerin für verschiedene AuftraggeberInnen wie The New York Times, NZZ, taz, The Guardian, Crafts Magazine, McKinsey Quarterly, meatpaper, The Drawbridge, Businessweek und das Jüdische Museum Berlin. Seit 2009 ist sie Mitglied der Zeichnerinnengruppe SPRING, für die #8 gestaltete sie unter anderem den Umschlag. Im selben Jahr erhielt sie den Hans-Meid-Förderpreis für Buchillustration.
Weitere Informationen unter
www.martineck.com
und
www.illustration.udk-berlin.de
Sophia Martineck
Hühner, Porno, Schlägerei
avant-verlag erschienen: Juni 2012
Paperback 56 Seiten
ISBN 978-3-939080-62-6
14,95 Euro
www.avant-verlag.de
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