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Beitrag vom 21.03.2012
Marisa Acocella Marchetto - Cancer Woman
Clarissa Lempp
Hochzeit, Karriere – alles stimmt bei Marisa Acocella Marchetto, doch dann erhält sie die Diagnose Brustkrebs. Im Comic "Cancer Woman" zeichnet sie den Kampf gegen die Krankheit mit viel Humor nach.
Marisa Acocella hat alles, was eine New Yorkerin laut unendlicher Staffeln "Sex and the City" mit Anfang 40 haben sollte. Sie hat sich als Freiberuflerin etabliert und besitzt eine Auswahl an sagenhaften Schuhen und Kleidern. Schließlich trifft sie auch noch Mr. Right, namentlich Silvano Marchetto. Der ist nicht nur im Besitz eines angesagten Restaurants in Manhattan sondern hat auch einen sexy Akzent und ernsthafte Absichten. La dolce Amore im Big Apple - das macht selbst die italienische Mama in New Jersey glücklich. Wenn da nicht eines Tages ein schwarzes Loch auf dem Ultraschallbild erscheinen würde. Marisa Acocella hat Brustkrebs. Alle um sie herum wissen jetzt genau was zu tun ist. Filomena - die Schutzheilige der Frauen in Not – muss angebetet werden. Oder ein Kabbala Zentrum aufsuchen. Selbstverständlich ist auch eine zweite Arztmeinung angezeigt. Aber es gibt weitere Probleme: Keine Krankenversicherung und keine finanzielle Absicherung. Die coole, erfolgreiche und stylische "Marisa B.C." (Before Cancer) löst sich nach der Diagnose in Panik auf.
Es klingelt an der Tür.
"Wer ist da?"
"Krebs!"
"Krebs wer?"
"DEIN HOCHZEITSKREBS! DEIN KARRIEREKREBS! DEIN LEBENSKREBS!", platzt ein unheimlicher Schattenkopfträger durch die Tür.
Die Fotokamera und das Diktiergerät sind ab dem Tag der Diagnose ständige Begleiter. Die Arztbesuche und Therapien werden festgehalten. Informationen zu wichtigen zusätzlichen Untersuchungen, Therapiemöglichkeiten und Nebenwirkungen, aber auch Ernährungstipps werden gesammelt und in Darstellungen ausgewertet. Will ein Arzt lieber unerkannt bleiben, verschwindet sein Gesicht in den Zeichnungen hinter einer Texttafel, einem Gegenstand oder wird ganz einfach vom Bildrand verschluckt. Krebszellen verwandeln sich in kleine unsympathische Knubbel-Figuren, deren Absichten an den zusammengezogenen Augenbrauen zu erkennen sind. Marisa Acocella Marchetto dokumentiert sich als Betroffene, ohne sich in einer Opfer-Haltung zu inszenieren. Sie will den Krebs in den Hintern treten, mit High-Heels und viel Humor. Dazu passt auch schön der Originaltitel "Cancer Vixen". Vixen steht im Englischen für eine erotische Frau und erinnert an die legendären Powerfrauen aus der gleichnamigen Trash-Film-Legende von Russ Meyer.
Marchetto rekapituliert auch die Ereignisse des 11. Septembers 2001. Im Rahmen einer Reportage war sie an diesem Tag in der Stadt unterwegs. Könnten die giftigen Rauchpartikel in der Luft eine Ursache sein? Prompt schleichen sich als Al Qaida-Karikaturen verkleidete Krebszellen in die Alpträume. "Cancer Woman" stellt sich den Ängsten, die mit Krebs verbunden sind, ohne Angst vor Krebs zu machen. Eine Über-Psychologisierung der Krebserkrankung, wie sie bereits Susan Sontag in ihrem Essay "Krankheit als Metapher" beschrieb, wehrt Acocella Marchetto ebenso ab. Der Blick auf das Brustkrebs-Cluster aus den USA zeigt, wie schwierig die Frage nach der Ursache von Krebs ist. Es basiert auf Faktoren aus Fallbeispielen, die für ein erhöhtes Risiko verantwortlich sein können, wie Starkstromleitungen und Giftmülldeponien. Marisa Acocella Marchetto präsentiert das Cluster als großflächige Brettspielversion á la Monopoly.
Als Comiczeichnerin ist Marchetto vor allem für Zeitschriften und Zeitungen wie "Glamour" und die "New York Times" tätig. Daher ist sie kurze Formate gewöhnt. So basiert auch die Graphic-Novel "Cancer Woman" auf einer komprimierten Erzählweise mit einem einfachen Zeichenstil. Zwischen die comictypische Storyline schieben sich immer wieder großflächigere Zeichnungen. Die sprachliche Erzählung wird durch informative Darstellungen, mehr oder weniger ernst gemeinten Diagrammen und starken Bilder aus der Innenwelt durchbrochen. So beispielsweise, wenn Marisa erfährt, dass zur Therapie eine künstliche Einleitung in die Wechseljahre gehört. Ein Kind taucht am Bildrand auf. Es wird in die Sphären des Universums gezogen und löst sich schließlich in einem blinkenden Punkt auf.
Telefonwarteschleife einer onkologischen Praxis. Aus dem Hörer ertönt Hintergrundmusik. Es ist der Song "Staying Alive". John Travolta wagt ein Tänzchen am Bildrand.
Marisa Acocella wurde operiert und heiratete Silvano Marchetto. Sie hat wieder eine Krankenversicherung und eine Chemotherapie und eine Bestrahlung hinter sich gebracht. Sie war im Kabbala Zentrum, bekam 29 Infusionsnadeln gelegt, trug das Band der heiligen Filomena um den Arm und trägt wahrscheinlich immer noch spektakuläre High-Heels an den Füßen. Die Graphic-Novel "Cancer Woman" erschien 2006 in den USA. Teile des Verkaufserlöses fließen seitdem in einen von der Autorin ins Leben gerufenen Fond, der Mammographien für Frauen ohne Krankenversicherung finanziert. Im Jahr 2006 wurde sie für "Cancer Woman" mit dem Humanitarian Award der Breast Cancer Research Foundation ausgezeichnet. Marisa Acocella Marchetto lebt aktuell immer noch in New York und ist krebsfrei.
Weitere Informationen zu Marisa Acocella Marchetto erhalten Sie unter: www.marisamarchetto.com
Zur Übersetzerin: Janina Joffe wurde in den USA geboren, ist in Deutschland aufgewachsen und lebt in London. Seit ihrem Studium in Oxford arbeitet sie im Kunstbereich und als Übersetzerin. 2011 gründete sie die Online Galerie "East of Mayfair": www.eastofmayfair.com
Hinweis: Die Verfilmung des Buches mit Cate Blanchett in der Hauptrolle ist in Vorbereitung.
Marisa Acocella Marchetto
Cancer Woman
Atrium-Verlag, Hamburg, erschienen März 2012
Deutsche Erstausgabe
Aus dem Amerikanischen von Janina Joffe
Broschiert, 224 Seiten
ISBN-10: 385535507X
ISBN-13: 978-3855355075
22,95 Euro
Diese Rezension wurde AVIVA-Berlin von der Autorin freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Der Text erschien zuerst auf: www.sf-magazin.de
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