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Beitrag vom 23.09.2011
Maria & Natalia Petschatnikov - Sidewalk
Nina Breher
Das Entfremden des Alltäglichen ist ein Merkmal von Kunst, und mittlerweile haben wir alles gesehen – oder nicht? Zwei Schwestern nehmen die Welt wie sie ist und provozieren auf einfache wie...
...geniale Weise neue Sichtweisen auf alltägliche Dinge.
"Mice & More" (2006): Riesige Monitorröhren, vergilbte Computermäuse und sperrige Lautsprecherboxen. Sie sind kaum zehn Jahre alt, und doch wirken sie antik. In Vitrinen aufgereiht rankt sich der Kabelsalat, den Menschen vor wenigen Jahren zum Zwecke der virtuellen Vernetzung geschaffen haben – und ihn mit der Erfindung von Wireless Lan und Bluetooth zurückließen. Wie wird heutzutage Zeit gemessen, wenn einige Jahre alte Tastaturen im Jahr 2011 ebenso verstaubt wirken wie die ersten Schreibmaschinen?
Das in Berlin lebende Zwillingspaar zeigt, dass wir es sind, die diesen Planeten fremd machen, ihn zu einem System von Zeichen umfunktionierten und ihn uns aneigneten, sodass die Welt heute nicht mehr sie selbst zu sein scheint. Nicht mehr sie selbst ist. Das klingt zunächst abstrakt, spüren wir doch die Realität tagtäglich auf uns einwirken. Doch Maria und Natalia Petschatnikov nehmen uns an der Hand, führen uns einen Schritt zurück und tatsächlich: Aus der von ihnen geschaffenen Ferne zum alltäglichen Geschehen wird das, was gemeinhin Realität genannt wird, zunehmend unscharf und fragwürdig.
Die Rezepte der Künstlerinnen sind denkbar einfach: Sie holen das Außen nach Innen, indem sie Plastiktauben auf im Inneren eines Raumes simulierten Bordstein setzen. Das große Fenster des Raumes erlaubt einen Blick nach Draußen, wo Tauben wie Fußweg eigentlich sein sollten. Der Begriff "Kulturfolger" wird ad absurdum geführt. Die Serie "U8" (2010) beinhaltet Ölmalereien der 24 Stationen einer Berliner U-Bahnlinie. Wer das Untergrundnetz der Stadt kennt, wird auch hier einen Schritt zurückgeführt: Die simplifizierenden Zeichnungen entleeren die Stationen von Details und zeigen das, was im Alltag als dreckig und monoton wahrgenommen wird, von einer anderen Seite. Die Petschatnikovs finden an jeder, aber auch jeder Haltestelle ein Merkmal, das sie von den anderen unterscheidet.
Menschen fehlen in beinahe allen Zeichnungen, Fotos und Installationen. Diese Tatsache ist dem surrealen Charakter der Werke zuträglich. Stellenweise wirkt es fast, als erobere die Natur den öffentlichen – beziehungsweise den von Menschen privatisierten und als öffentlich bezeichneten – Raum zurück. "Waterfall" (2004) zeigt nicht mehr als einen laufenden Wasserhahn, um den sich Moose und Gräser ranken. In Fugen und Steckdosen eines kahlen Raumes drapierten die Künstlerinnen dezent, fast vorsichtig, Pilze.
Es ist der Raum selbst, den die Künstlerinnen zu transformieren trachten. Alle Objekte scheinen in ihren Werken ein Eigenleben zu entwickeln, scheinen getrieben zu sein von dem Wunsch, Räume und Plätze zurückzuerobern. Der Mensch hat sich zurückgezogen und ist nur mehr antizipiert: Hundeleinen, die ins Nichts führen, Namen an Klingelschildern und Stühle, die sich im Zweidimensionalen als Zeichnungen an den Wänden fortsetzen. Die Schauplätze sind bevölkert von andersartigem Leben, von Kugeln aus Fell, Pflanzen und Plastiktieren.
AVIVA-Tipp: Das Künstlerinnen- und Geschwisterpaar Petschatnikov wirft die Frage auf, welche Welt es ist, die wir im Zuge der Technisierung, des Städtebaus und der Privatisierung von Räumen geschaffen haben. Die Zeit, der Anhaltspunkt all unseren Handelns, nimmt an Geschwindigkeit auf, sodass Gestern und Heute immer weiter auseinanderrücken – wer sind wir, die Menschen, in der heutigen Welt? Aus Zeitungsschnipseln zusammengesetzte, an Telefonzellen vernetzte Wesen, wie es die Installation "Paperwork" (2005-2007) nahe legt? Kunst entfremdet das Alltägliche und soll Fragen aufwerfen. Und das gelingt diesem leider etwas schlanken, aber dafür umso interessanteren Bildband bestens.
Zu den Künstlerinnen: Maria und Natalia Petschatnikov, geboren 1973 in St. Petersburg, arbeiten als künstlerisches Duo in den Grenzbereichen Malerei und Installation. Sie setzen sich mit dem Allgegenwärtigen und scheinbar Nebensächlichen auseinander. Mit Fantasie, Witz und Hintergründigkeit werden dem Alltag überraschend neue Perspektiven entlockt. Nach ihrer künstlerischen Ausbildung in New York und Paris waren sie in zahlreichen internationalen Residenzprogrammen tätig. Sie leben und arbeiten in Berlin.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.petschatnikov.de
Die Ausstellung "Briefly yours" ist in Berlin noch bis zum 22. Oktober 2011 zu sehen
Veranstaltungsort: Galerie Wagner + Partner
Karl-Marx-Allee 87
10243 Berlin
Weitere Informationen finden Sie unter: www.galerie-wagner-partner.com
Maria und Natalia Petschatnikov
Sidewalk
Herausgegeben von Galerie Wagner + Partner, Kunstverein Münsterland
Deutsch / Englisch
Kehrer Verlag, erschienen: 2011
Gebunden, 92 Seiten
ISBN: 978-3-86828-231-3
28,00 Euro
Weitere Informationen finden Sie unter: www.kehrerverlag.com