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Beitrag vom 22.01.2008
Der Umbruch. Alice Rühle-Gerstels autobiographisch gefärbter Roman
Anna Opel
Ein Roman voller zeitgeschichtlicher Bezüge aus den 1930ern. Die Doppelbedeutung des Wortes Umbruch beschäftigt die Journalistin Hanna bei ihrer Rückkehr nach Prag. Erschienen im AvivA Verlag.
Ort der Handlung ist Prag zwischen 1934 und 1935. Die Protagonistin Hanna Last, Kassiererin bei der Roten Hilfe in der Berliner Ortsgruppe Lichterfelde, flieht vor den Nationalsozialisten in ihre Geburtsstadt Prag. Ihr Mann Karl, ein Antifaschist, ist seit 1934 Gefangener im sächsischen Zuchthaus zu Waldheim. Hanna lebt in Prag vor dem Hintergrund politischer Intrigen und Denunziationen sowie Säuberungen und Polarisierungen in der KPC, mit der Angst, von Naziagenten umgeben zu sein. Da sie zweisprachig aufgewachsen ist, findet sie Arbeit bei der neugegründeten tschechischen Zeitschrift "Svoboda" (Freiheit) und knüpft an ihre Freundschaften aus Jugendzeiten an. Eine Liebesbeziehung zum Chefredakteur der liberalen Zeitung bringt sie in Bedrängnis, handelt es sich doch um einen politischen Gegner.
Eigener Anspruch versus Parteilinie
Der Roman, geschrieben Ende der 1930er Jahre im mexikanischen Exil, ist gekennzeichnet vom politisierten Bewusstsein und dem zu Beginn etwas naiv anmutenden Idealismus der Erzählerin Hanna. Diese pflegt ihre Beobachtungen und Erfahrungen umgehend mit den Realitäten in der Partei kurzzuschließen, hinterfragt die eigene Position, denkt und sieht und sieht und denkt. Die Erregung und Unruhe angesichts der ständigen Veränderungen in ihrem Umfeld teilen sich der Leserin in einem knappen, manchmal sprunghaften Stil mit.
Als Hanna in einem Prager Sommerbad von einer Freundin erfährt, dass die MitgliederInnen der Partei neuerdings Rechenschaft abzulegen hätten über ihren privaten Lebenswandel, macht sie sich Gedanken über die Konsequenzen der neuen Moskauer Linie. Der Anspruch an die neue Gesellschaft - Gleichberechtigung der Geschlechter auch in den privaten Beziehungen - wird hier deutlich. Und dass dieser Anspruch sich nicht erfüllen würde:
In der Sowjetunion wurde schon seit ein paar Wochen eine heftige Kampagne geführt: die alten, wohlvertrauten ´bürgerlichen Vorurteile´ –Familienleben, bürgerliche Treue, das gemütliche Heim – waren wieder aus der Rumpelkammer hervorgezogen worden und wurden im Ersten Arbeiterstaat der Welt den Proleten als neueste Ideale kommunistischer Moral vorgestellt...Es widersprach völlig den bisher gepriesenen Grundsätzen der Kulturrevolution...Mußten die nächsten Schritte, nach der Hochpreisung der Monogamie nicht das Verbot der Abtreibung sein, die Erschwerung der Ehescheidung, die Rückverweisung der Frau aus dem Berufsleben ins Haus, in die Abhängigkeit vom Einzelmann..?
Zwischen Roman und Autobiographie
Der literarische Stil dieses Buches mag für die Leserin heute spröde, manchmal etwas antiquiert wirken. Als merkwürdiger Zwitter zwischen Roman und Autobiographie verschafft die Lektüre dieses Buches der Leserin jedoch einen lebhaften Einblick in Lebensumstände und Lebensgefühl einer intellektuellen Exilantin. Wie Hanna verließ auch Alice Rühle-Gerstel vorsorglich das nationalsozialistische Deutschland und kehrte in ein Prag zurück, das sich im Wandel befand. Die GenossInnen vor Ort nehmen Hanna jedoch nicht so freundlich auf, wie sie es erhofft hatte. Am Ende wird sie sich ernüchtert von der Partei abwenden und aufbrechen in eine neue Freiheit.
Zur Autorin:
Alice Rühle-Gerstel stammte aus einer deutsch-jüdischen Fabrikantenfamilie, wurde 1894 in Prag geboren und gehörte zum Freundeskreis von Milena Jesenská. Sie studierte Germanistik und Philosophie in Prag und München und setzte sich mit der Individualpsychologie Alfred Adlers auseinander. 1921 heiratete sie den rätekommunistischen Politiker und Schriftsteller Otto Rühle, gründete in Dresden den Verlag "Am anderen Ufer" und entwickelte eine sozialistische Erziehungstheorie. Wegen des heraufziehenden Nationalsozialismus emigrierte Rühle-Gerstel 1932 nach Prag, wo sie als Redakteurin beim "Prager Tagblatt" arbeitete. Im mexikanischen Exil, wohin sie ihrem Mann 1936 folgte, freundete sie sich mit Leo Trotzki an und war vor allem als Übersetzerin tätig. Zeit ihres Lebens hielt Rühle-Gerstel Vorträge, schrieb Rezensionen, arbeitete für den Rundfunk und verfasste wichtige Analysen zur Situation der Frau. 1943 nahm sie sich in Mexiko nach dem Tod ihres Mannes das Leben. (Verlagsinformation)
AVIVA-Tipp: Ein Buch, das sich nicht geschmeidig wegschmökert, sondern von der Leserin die Bereitschaft abverlangt, in die Realitäten und Gedankenwelt einer anderen Zeit einzutauchen. Wer diese Hürde nimmt, wird belohnt mit dem plastischen Panorama der politisch bewegten und notgedrungen mobilen deutsch-jüdischen Intellektuellenszene der 1930er Jahre.
Eine liebevolle Ausstattung und ein ausführliches Nachwort der Herausgeberin Marta Marková runden das Buch ab zu einer Wiederentdeckung nicht nur für historisch Interessierte.
Alice Rühle-Gerstel:
Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit. Ein Prag-Roman
AvivA Verlag, erschienen September 2007
444 Seiten, mit historischen Pragfotos und Stadtplan, Hardcover, fadengeheftet
Preis 24,50 Euro
ISBN 978-3932338-31-1