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Beitrag vom 07.01.2008
Nava Semel - Und die Ratte lacht
Sharon Adler
Metamorphosen der Erinnerung kreiert die Autorin Nava Semel in diesem brillanten Werk, in dem die Großmutter über ihre Kriegserlebnisse in Polen ihrer Enkelin Jahre später in Israel erzählen wird
Erinnerungen
Was geschieht mit den Erinnerungen, wenn man sie jahrzehntelang wegsperrt, es ihnen nicht erlaubt, ans Tageslicht zu dringen?
Wie können Menschen, denen unfassbar Entsetzliches widerfahren ist, weiterleben? Ist es überhaupt möglich, diese Dinge in Worte zu fassen? Und was passiert, wenn das Unausgesprochene sich seine Bahn bricht? Wird es kontrollierbar sein? Verändert sich die subjektive Erinnerung, indem man sie in verständliche, ertragbarere Worte fasst?
Die Großmutter muss es, denn ihre Enkelin verlangt danach, nicht wissend, was sie erwartet. Und auch die Erzählerin der Geschichte ist sich unsicher, wie sie es erzählen kann. Dem Kind, das vor ihr sitzt, und das sie selbst einmal war.
An einem sonnenüberfluteten Nachmittag in Tel Aviv 1999, verlangt die Enkelin von der Großmutter, ihr bei den Hausaufgaben zu helfen, denn sie soll die Großmutter über deren Kriegserlebnisse in Polen befragen und darüber einen Aufsatz schreiben.
"Diese Geschichte sollte in allen Details erzählt werden sagt die Stimme in ihr, ein Echo der öffentlichen Aufforderung, zu erzählen, bevor es zu spät ist, denn diejenigen, die erzählen können, werden immer weniger."
Die Großmutter versucht es schließlich mit einer Legende der Schöpfungsgeschichte: Die Ratte wünschte sich von Gott das Lachen. Er gab nach, aber unter einer Bedingung: Wenn die Ratte eines Tages unter der Erde ein anderes Wesen lachen hört, dann wird auch sie lachen können.
Die Großmutter versucht, das Erinnerte fassbar zu machen, während die Enkelin atemlos zuhört, auf den Knien das leere Heft mit dem Engel Raffael.
Unter der Erde
Im zweiten Weltkrieg wollten die Eltern die fünfjährige Tochter vor den Nazis retten und boten polnische Bauern Geld dafür, sie zu verstecken. Diese sperrten das jüdische Mädchen in ein Erdloch, wo sein einziger Gefährte eine Ratte war, mit der es sich anfreundete. Die ständige Angst des Mädchens, das Nicht-Verstehen, die Beschimpfungen durch die Bauern, wird noch gesteigert durch die fortwährenden Vergewaltigungen durch den Sohn der Bauern, der sich das Kind wie einen Besitz aneignet und es während des Missbrauchs als "dreckige Jüdin", als "jüdisches Loch" beschimpft.
Ein Priester nahm später des Mädchen zu sich und übergab es bei Kriegsende einer zionistischen Organisation, die es nach Israel brachte. Einen Winter, einen Frühling und einen Sommern hatte das Kind in dem Erdloch verbracht.
Die Zeit, oder: Geschichten haben ihre Geister
Das Phänomen "Zeit", ihren subjektiven Wert und seine Wirkung arrangiert die Autorin Nava Semel in fünf einzelnen großen Kapiteln zu einer vielschichtigen Einheit, zu einer ungewissen Reise durch Raum und Zeit.
Nava Semel ist es hoch anzurechnen, die Innen- und Außensichten ihrer Charaktere, deren Isolation und die zeitlich weit auseinanderliegenden Ereignisse – 1943 bis 2099 (!) – aufzubrechen und zu verknüpfen.
Innovativ ist der Erzählstil, meisterhaft und subtil der Einsatz der unterschiedlichsten Stilmittel, angelegt als Roman und doch auch als Theaterstück. Die gleichnamige Kammeroper, komponiert von Ella Milch-Sheriff nach dem Libretto von Nava Semel, hatte 2005 in Tel Aviv Premiere und wurde dort drei Jahre lang im Cameri Theatre in Tel Aviv und inzwischen auch in anderen Ländern aufgeführt.
AVIVA-Tipp: Jedes Wort ist ein Schwert, das trifft! Tief hinein in die Seele und in das Herz der Leserin. Die erzählte Geschichte ist so unfassbar grausam, dass es manches mal schwer fällt, weiterzulesen, ohne zu verzweifeln. "Und die Ratte lacht" ist ein äußerst seltenes Stück wertvoller Literatur, das es lohnt, immer wieder gelesen zu werden. Wort für Wort, bis an die Schmerzgrenze menschlichen Empfindens und Begreifens.
Zur Autorin: Nava Semel wurde 1954 als Tochter einer Auschwitz-Überlebenden und eines Widerstandskämpfers in Israel geboren. Schon mit siebzehn Jahren begann sie als Journalistin zu arbeiten. Sie besitzt einen Master-Abschluss in Kunstgeschichte an der Universität Tel Aviv. Nach dem Studium der Kunstgeschichte widmete sie sich der Literatur. Sie schrieb Lyrik und Prosa, Drehbücher fürs Fernsehen, Theaterstücke und Hörspiele. In Deutschland wurde sie vor allem durch ihre Jugendbücher bekannt. "Die Braut meines Bruders" stand 2004 auf der Auswahlliste des Deutschen Jugendliteraturpreises. Er spielt im Palästina des Jahres 1935 und schildert das Nebeneinander von Juden und Arabern.Weitere Titel sind "Gerschona" (in der Neuauflage "Trauer, Hoffnung und Radieschen") und "Flugstunden". Der (Erwachsenen-)Erzählband "Gläserne Facetten" ist vergriffen.
Nava Semel erhielt mehrere internationale Literaturpreise. "Das Kind hinter den Augen" wurde 1995 in Österreich Hörspiel des Jahres. Sie ist Mitglied im Direktorium der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.
Nava Semel
Und die Ratte lacht
persona verlag, erschienen Oktober 2007
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
224 Seiten, Hardcover
Euro 22,00
ISBN 978-3-924652-35-7