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Beitrag vom 10.11.2007
Saul Friedländer, Wenn die Erinnerung kommt
Yvonne de Andrés
Der große Historiker der Shoa erläutert seine Auffassung darüber, dass Geschichtsschreibung immer auch von menschlicher Solidarität und ihrer Verletzung handelt.
Wer die große Rede Saul Friedländers zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2007 gelesen oder gehört hat und Kenner seines großen Buches über "Das Dritte Reich und die Juden" (Bd. 1, München 1998; Bd. 2, München 2006) ist, sollte dieses neue Buch Friedländers unbedingt lesen. Wer die Friedenspreisrede noch nicht gelesen hat und mit dem großen Werk des Historikers aus Los Angeles bislang nicht vertraut ist, sollte beides unbedingt vorher tun.
In "Wenn die Erinnerung kommt", Friedländer hat das Buch 1977 geschrieben, erklärt der Historiker u. a., wo Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Geschichtsschreibung und Erinnerung liegen und warum Geschichtsschreibung ohne Erinnerung leer bleiben muss. Kurz nachdem er 1976 Professor für Geschichte an der Universität in Tel Aviv wurde, schrieb er "Wenn die Erinnerung kommt" als eine Art Selbstvergewisserung. Ganz bewusst wollte er sich selbst seine innere Welt erschließen.
Friedländer wurde 1932 in Prag geboren, er war das Kind einer wohl situierten jüdischen bürgerlichen Familie, in deren Alltag die Religion aber keine große Rolle spielte. Die Familie entschloss sich zur Flucht nach Paris, als die deutsche Wehrmacht Prag besetzte. Als auch ein Teil Frankreichs von den Deutschen besetzt wurde, floh man weiter in die noch unbesetzte Zone. Als auch die Juden der unbesetzten Zone ausgeliefert werden sollten, gaben Friedländers Eltern ihren Sohn in die Obhut eines katholischen Internats, sie selbst versuchten in die Schweiz zu fliehen, was misslang. Sie wurden aufgegriffen und sind beide wahrscheinlich in Auschwitz umgebracht worden. Ihr Sohn erfuhr von ihrem Tod erst am Ende der Nazizeit, er schloss sich einer zionistischen Jugendorganisation an und wollte für den neu entstehenden Staat Israel kämpfen. Nach dem Unabhängigkeitskrieg studierte er Geschichte in Tel Aviv, Genf und Paris. Er promovierte mit einer Studie über die Beziehungen Nazi-Deutschlands zu den USA und erhielt 1976 eine Professur für Geschichte in Tel Aviv, seit 1987 unterrichtet er an der University of California in Los Angeles.
Den Anstoß, sich seine innere Welt zu erschließen, gab Saul Friedländer ein Besuch in Schweden im Jahr 1956. Sein Onkel Hans leitete dort ein Heim für geistig behinderte Kinder. Saul Friedländer wurde dort mit Kindern konfrontiert, die "in einer unzugänglichen Vorstellungswelt lebten, Kinder, die sprechen wollten und es nicht konnten, Kinder, die sich verzweifelt bemühten, eine Verbindung herzustellen und doch immer nur stundenlang einen Namen wiederholen konnten oder ununterbrochen dasselbe Lied sangen und rhythmisch dazu mit dem Kopf nickten. Ich begriff damals, was es bedeutet, wenn eine innere Welt für immer verschlossen ist..."
Mit "Wenn die Erinnerung kommt" schildert Saul Friedländer die verschiedenen Situationen, in denen sich für ihn seine verschiedenen Lebenssituationen entschlüsselten. Es ist eine große, öffentliche Selbstreflexion des Historikers, der über sich, seine Eltern, den Staat Israel und viele Dinge mehr nachdenkt.
Saul Friedländer, der sich eingehend mit dem Verhältnis von Geschichte und Psychoanalyse beschäftigt hat - sein Buch Histoire et psychoanalyse, (Paris 1975) ist leider noch nicht in die deutsche Sprache übersetzt - ist ein Gegner der Trennung von Erinnerung und Geschichtsschreibung. In einem großen Streit mit dem Historiker Martin Broszat hat er darauf bestanden, dass eine Geschichtsschreibung über die Shoah, die nicht die Erinnerungen der Opfer mit in die Darstellung einbringt, unvollständig bleiben muss.
In dem Buch "Wenn die Erinnerung kommt" hat Saul Friedländer vorformuliert, was er am Ende seiner Rede in der Paulskirche sagte. Geschichtsschreibung handelt immer auch vom Glauben an menschliche Solidarität. Sie handelt nicht nur von Strukturen und Prozessen, überindividuellen Gesetzmäßigkeiten und gesellschaftlichen Verhältnissen. Saul Friedländer sagte in der Paulskirche, die Stimmen der Opfer der Shoah berührten die Menschen auch heute noch: "mit einer ungewöhnlichen Stärke und Unmittelbarkeit, die weit über die Grenzen der jüdischen Gemeinschaft hinaus fortwirkt und die große Teile und mehrere Generationen der abendländischen Gesellschaft bewegt hat. Wenn wir diesen Schreien lauschen, dann haben wir es nicht mit einem ritualisierten Gedenken zu tun, und wir werden auch nicht durch kommerzielle Darstellungen des Geschehens manipuliert. Vielmehr erschüttern uns diese individuellen Stimmen infolge der Arglosigkeit der Opfer, die nichts von ihrem Schicksal ahnten, während viele rings um sie das Ergebnis kannten und manchmal an seiner Herbeiführung beteiligt waren. Vor allem jedoch bewegen uns die Stimmen der Menschen, deren Vernichtung bevorstand, bis auf den heutigen Tag gerade wegen ihrer völligen Hilflosigkeit, ihrer Unschuld und der Einsamkeit ihrer Verzweiflung. Diese Stimmen bewegen uns unabhängig von aller rationalen Argumentation, da sie den Glauben an die Existenz einer menschlichen Solidarität stets von neuem einer Zerreißprobe aussetzen und in Frage stellen."
Auszüge aus der Friedenspreis-Rede Saul Friedländers finden Sie auf www.spiegel.de
Zum Autor: Saul Friedländer 1932 in Prag geboren, arbeitet als Professor für Geschichte an den Universitäten von Tel Aviv und von California, Los Angeles. Er ist Träger zahlreicher Preise und Auszeichnungen. 1998 erhielt er für den ersten Band des zweibändigen Werkes Das Dritte Reich und die Juden den Geschwister-Scholl-Preis. 2007 erhielt er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels.
Aviva Tipp: Saul Friedländers Buch stellt den Leserinnen den Menschen Saul Friedländer vor, der im Jahr 1977 eine Art öffentliche Selbstvergewisserung seiner Anliegen durchführt und sie in diesem Buch, fast wie ein Tagebuch verfasst, publiziert. Darüber hinaus erläutert Saul Friedländer aber auch, warum Geschichtsschreibung ohne Erinnerung leer bleibt. Sie handelt immer auch von menschlicher Solidarität, nicht nur von gesellschaftlichen Bedingungen und überindividuellen Gesetzmäßigkeiten. Ein Buch das man unbedingt gelesen haben sollte, ebenso wie das große Werk Friedländers ("Das Dritte Reich und die Juden") und auch seine Dankesrede bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels.
Saul Friedländer
Wenn die Erinnerung kommt
Originaltitel: Quand vient le souvenir.
4. Auflage.
Ãœbersetzt von Helgard Oestreich
Beck C. H Verlag, erschienen Juni 2007
Kartoniert - 191 Seiten
ISBN: 9783406566769
10,95 Euro