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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 30.06.2003


Minette Walters – queen of crime
Ilka Fleischer

Seit ihrem Krimi-Debüt IM EISHAUS 1992 hat sie Millionen LeserInnen schlaflose Nächte bereitet. Auch ihr jüngstes Werk FUCHSJAGD wird ein kollektives Schlafdefizit nach sich ziehen.





Bevor Minette Walters als Redakteurin für das klassische Frauenjournal „British women`s weekly“ arbeitete, studierte sie Französisch und Literatur. Als sie 1977 ihren Zeitungsjob kündigte, um sich als Schriftstellerin zu versuchen, verfasste sie über ein Jahrzehnt vor allem Kurz- und Liebesgeschichten – schon damals unter dem bis heute ungelüfteten Pseudonym Minette Walters, schon damals erfolgreich.

Ende der 80er dann der Sprung ins Krimi-Genre. Fortan werden ihre vielfach ausgezeichneten Krimis mit Attributen wie "packend", "mitreissend", "temporeich", "fesselnd" gelobt – und durchaus treffend beschrieben. Nichts für schwache Nerven, geschweige denn für LeserInnen, deren Schlafpensum ohnehin schon grenzwertig ist. Aber sicherlich ein guter Ersatz für teures Bunjee-Jumping und andere kostspielige Thrill-Erfahrungen. Doch nicht nur das:

„Der Nachbar“ z.B. , ihr Psycho-Thriller aus dem vergangenen Jahr, rückt die absurden Maßstäbe ins Blickfeld, nach denen "pädophile Fremdtäter" von einer breiten Öffentlichkeit dämonisiert werden, während – die wesentlich verbreitetere – inner-famliäre Sexualgewalt gegen Kinder und Jugendliche nach wie vor weitgehend ausgeblendet und verharmlost wird. In meisterhafter Krimi-Verpackung kommt so nicht nur eine differenzierte psycho-soziale Studie zum Thema "Kindesmißbrauch" und den unterschiedlichsten Facetten indivueller und kollektiver (Mit-)Täterschaft daher, sondern auch eine fundamentale Gesellschaftskritik.

Das Szenario: Zwei Tage Ausnahmezustand in einem heruntergekommenen Stadtbezirk in der Nähe von Southhampton. Als sich im Marzahn-ähnlichen Bassindale Estate das Gerücht verfestigt, im Viertel sei ein entlassener Sexualstraftäter einquartiert worden, werden Eltern-Albträume wahr: Ein "Perverser" in unmittelbarer Nachbarschaft!
Bassindale Estate, im Volksmund zu Acid Row (von Acid = Heroinersatz) verstümmelt, ist übersichtlich genug, um den neu hinzugezogenen Milosz und seinen Vater Franek als "Kinderschänder" zu verdächtigen. Tür an Tür wohnt die alleinerziehende Melanie Patterson mit ihren beiden kleinen Kindern und weiterem Nachwuchs im Bauch – betreut von der jungen, couragierten Ärztin Dr. Sophie Morrison.

Kurz nachdem das Gerücht um die "Kinderschänder" seine Kreise zieht, wird eine Vermisstenmeldung der zehnjährigen Amy aus einem anderen Stadtteil bekannt gegeben. War das nicht die Gegend, in der die beiden "Neuen" noch kurz zuvor gelebt haben? – Nachdem Melanies Versuch scheitert, die Behörden zur erneuten Umsiedelung der Nachbarn zu bewegen, beginnt sie gemeinsam mit ihrer kinderreichen Mutter Gaynor, eine Stadtteil-Demo zu organisieren – nicht ahnend, dass eine gewaltbereite Jugendgang im Hintergrund schon Vorbereitungen für ein Straßenfest der besonderen Art trifft.
Als der Demozug startet, versorgt Dr. Morrison gerade den asthma-kranken Franek. Parallel errichten die zugedröhnten und mit Brandbomben bestückten Kids Barrikaden auf den wenigen Zufahrtsstrassen zur Acid Row – die "Party" nimmt ihren Lauf:

"Die Schlagzeilen am folgenden Morgen - dem 29. Juli - waren grausig. Alkoholisierte Menge im Blutrausch - Pädophiler brutal abgeschlachtet - 3 Tote und 189 Verletzte nach fünfstündigem Massaker... Die Welt schauderte angewidert. Die Leitartikler stellten die üblichen Verdächtigen an den Pranger. Regierung, Polizei, Sozialdienste, Pädagogen. Die Jugendberatungsstellen im ganzen Land waren demoralisiert.
Aber von den zweitausend Menschen, die sich bei den Unruhen um Plätze mit guter sicht auf die Orgie von Tod und Gewalt geschlagen hatten, wollte später kein Einziger dabei gewesen sein..."



Weniger gesellschaftskritisch, doch nicht weniger spannend gestaltet sich die Fuchsjagd, der frisch erschienene Krimi-Neuling von Minette Walters. Trotz seines 477-Seiten-Umfanges ist auch hier kaum an ein langanhaltendes Lesevergnügen zu denken – zu intensiv wird die Leserin von Anbeginn in den Strudel der Ereignisse in dem kleinen Dorf Shenstead, unweit der Küste von Dorset, hineingezogen.

Nachdem der betagte Colonel James Lockyer-Fox eines kalten Wintermorgens die Leiche seiner Frau Ailsa auf der Terrasse seines Familien-Anwesens entdeckt, wird zwar ein Tod ohne Fremdeinwirkung festgestellt. Dennoch verdächtigen einige Dorf-BewohnerInnen den Colonel, seine Frau zunächst geschlagen und dann bei Eiseskälte ausgesperrt zu haben, so dass sie erfroren sei. Auch nach Monaten ist der Dorffrieden noch derart empfindlich gestört, dass in dem stattlichen Herrenhaus der Lockyer-Fox immer wieder anonyme Droh-Anrufe eingehen, die den alten Mann zunehmend irritieren und in die Isolation treiben.
Einzig Mark Ankerton, ein junger Anwalt und Freund des Colonels bleibt beharrlich in seinen Versuchen, zu dem Trauernden durchzudringen und ihn zur Offensive gegen die Verleumdungen aus der Nachbarschaft zu bewegen. Doch schon bald zweifelt auch er an der Unschuld des alten Strategen: Warum sollte dieser nur mit Schweigen reagieren, wenn die Vorwürfe unberechtigt wären? Wieso versucht er störrisch, seinem Sohn die Schuld zuzuschieben, obwohl der ein überzeugendes Alibi vorweisen kann? Welche Rolle spielen die familiären Erb-Streitigkeiten und das plötzliche Bemühen des Colonels, seine ehedem zur Adoption freigegebene Enkelin, Capitain Nancy Smith, kennenzulernen? Und inwieweit steht die Ankunft von LandbesetzerInnen in Shenstead im Zusammenhang mit Ailsas Tod und den "bösen Zungen"?

Mit ihrer "Fuchsjagd" ist es Minette Walters zwar nicht gänzlich gelungen, an ihre Fesselungs-Künste aus "Der Nachbar" anzuknüpfen. Hier und da verliert sich der Plot in einem Seitenpfad und der ein oder andere Nebenschauplatz hätte ruhig weiter im Hintergrund bleiben können. Nichtsdestotrotz wird die LeserInnenschaft durch die Mischung aus brüchiger Landidylle, turbulenten und fachgerecht sezierten Ehe- und Familienverhältnissen, einer aufflackernden dezenten Liebe und den wohldurchdachten "Kriegs"-Strategiespielen der ProtagonistInnen in den Bann gezogen.


Nichts gegen Harry Potter, aber...

...wer sich mal wieder einen richtigen Adrenalin-Gick verschaffen will, ist bei Minette Walters besser aufgehoben. Und: Der süße Schauder der Erinnerungen an den „Stoff“ der vergangenen Nacht verhüllt den nächsten Tag in einen angenehmen post-addiktiven Nebel.

Walters, Minette
Der Nachbar.

Goldmann Wilhelm Gmbh, August 2002
22,90 EURO
ISBN 3-442-30969-7



Walters, Minette
Fuchsjagd

Goldmann Wilhelm Gmbh, Juni 2003
23,90 EURO
ISBN 9783442310128


Literatur

Beitrag vom 30.06.2003

AVIVA-Redaktion