Annemarie Schwarzenbach zum 100. Geburtstag - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur





 

Chanukka 5785




AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 04.05.2008


Annemarie Schwarzenbach zum 100. Geburtstag
Adler, de Andres

Am 23. Mai 2008 wäre die androgyne Reiseschriftstellerin 100 Jahre alt geworden. Eine Einladung, die Texte der begabten Autorin und tragischen Person neu zu lesen. Ihre Veröffentlichungen...




...ebenso wie der Mythos um ihr exzessives Leben und ihre (meist unglücklichen) Lieben faszinieren die LeserInnen noch heute.
Nicht nur ihre herbe, androgyne, dabei verletzliche Schönheit, oder der rastlose und ausschweifende Lebensstil, begleitet von hemmungsloser Alkohol- und Morphiumsucht, sorgten schon früh dafür, dass Annemarie Schwarzenbach ambivalente Gefühle hervorrufen musste. Wer sie einmal sah oder erlebte, vergaß sie nie.

So erinnerte sich später die Autorin Carson McCullers, die erst am Anfang einer fulminanten Karriere stand, an die erste Begegnung mit der Freundin: "Sie hatte ein Gesicht, von dem ich wusste, dass es mich bis ans Ende meiner Tage nicht mehr loslassen würde...". Hingerissen war auch die Fotografin Marianne Breslauer, die Annemarie Schwarzenbach in wunderschönen Aufnahmen portraitierte: "Annemarie war, ich muss es immer wieder sagen, das schönste Lebewesen, dem ich je begegnet bin".

Doch Annemarie Schwarzenbach hatte nicht nur VerehrerInnen, denn vor allem war sie geprägt von dem schwierigen Verhältnis zu ihrer Mutter Renée und durch ihre verzweifelte, unerwiderte Liebe zur Schriftstellerin Erika Mann. Diese empfand sie eher als lästig und entzog sich der unglücklich Liebenden durch Reisen, etwa mit ihrem Bruder Klaus. Zur Ruhe kam die unstete Annemarie ebenfalls in ausgedehnten Reisen – als Reiseschriftstellerin und Fotojournalistin im Kongo, in Syrien, Ägypten, Afghanistan und Persien. Vor allem aber im Schreiben fand sie ihre Erfüllung, und von ihren psychischen Zusammenbrüchen erholte sie sich in Sils, ihrem Refugium in den Schweizer Bergen. Annemarie Schwarzenbach, die ihr Studium im Alter von 23 Jahren mit dem Doktortitel abschloss und aus einer reichen industriellen, mit Hitler sympathisierenden Familie stammte, wusste bereits mit 20 Jahren, dass sie "nur Frauen mit wirklicher Leidenschaft lieben kann". Sie, der talentierte Outlaw, litt zeitlebens darunter, nicht wirklich zur literarischen Elite der Mann-Geschwister dazu zu gehören.

Die Weitgereiste starb im Alter von 34 Jahren, am 15. November 1942, an den Folgen eines Fahrradunfalls.

"Fast eine Liebe. Annemarie Schwarzenbach und Carson McCullers" von Alexandra Lavizzari

Zwei Schriftstellerinnen, die sich trotz starker gegenseitiger Anziehungskraft aneinander vorbeilieben.

Viele Mythen ranken sich bis heute um die Liebe der Schriftstellerinnen Annemarie Schwarzenbach und Erika Mann. Doch nicht diese Liebe ist Gegenstand dieser Veröffentlichung, sondern eine andere, ebenfalls unglückliche Sehnsucht.
Die zwischen der früh verstorbenen und der begabten, mehrfach ausgezeichneten Autorin Carson McCullers und Schwarzenbach. Alexandra Lavizzari analysiert die Hintergründe der unerfüllten Liebe zwischen den beiden Frauen, deren Werke und Biographien.
Bereits in der Anthologie "Gelebte Sehnsucht, Grenzgängerinnen der Moderne", herausgegeben von Susanne Nadolny, beschäftigt sich die Autorin und Journalistin Lavizzari mit der Person und dem Werk von Annemarie Schwarzenbach.

Als Schwarzenbach, zu diesem Zeitpunkt seit über zehn Jahren unglücklich in Erika Mann verliebt, die neun Jahre jüngere, euphorisch gefeierte, amerikanische Schriftstellerin Carson McCullers im Juni 1940 in einem New Yorker Hotel kennen lernt, verliebt sich diese auf den ersten Blick - unglücklich - in sie.

Dieses (Beziehungs-)Muster, die Rast- und Haltlosigkeit beider Frauen, deren offen ausgelebten Süchte verhindern die Gefühle füreinander. Carson sollte Annemarie nie vergessen. Fünfzehn Jahre später schrieb sie in ihren Memoiren, gegen Ende ihres eigenen Lebens: "Ich weiß von keiner anderen Freundin, die ich mehr geliebt habe und deren plötzlicher Tod mich mehr erschüttert hat".

Zur Autorin: Alexandra Lavizzari, 1953 in Basel geboren, Studium der Ethnologie und Islamwissenschaft. Nach mehrjährigen Aufenthalten in Nepal, Pakistan und Thailand lebt sie seit 1999 in Rom. Sie schreibt für Schweizer Zeitungen und ist Autorin von zahlreichen belletristischen, kunstgeschichtlichen und literaturkritischen Werken. Sie ist verheiratet und hat drei Kinder.
In der edition ebersbach erschienen 2005 ihre biografischen Essays über das Leben berühmter Kindsmusen: "Lulu, Lolita und Alice". Weitere Veröffentlichungen: "Ein Sommer, Novelle" (2001), Gwen John. Rodins kleine Muse", Romanbiografie (2001), "Wenn ich wüsste wohin", Roman (2007), "Gelebte Sehnsucht, Grenzgängerinnen der Moderne", (2005). Bieler Literaturpreis 1987. 1. Preis des Kurzgeschichtenwettbewerbs des AutorInnenverlags, Berlin 2001. Anerkennungspreis der Heinz-Weder-Stiftung, 2001. 13. Würth Literaturpreis der Poetik-Dozentur der Universität Tübingen, 2002.


"Eine Frau zu sehen" von Annemarie Schwarzenbach

Die Autorin beginnt ihre Erzählung mit einer flüchtigen Begegnung im Fahrstuhl: "Eine Frau zu sehen: nur eine Sekunde lang, nur im kurzen Raum eines Blickes, um sie dann wieder zu verlieren, irgendwo im Dunkel eines Ganges, hinter einer Türe, die ich nicht öffnen darf – aber eine Frau zu sehen, und im selben Augenblick zu fühlen, dass auch sie mich gesehen hat, dass ihre Augen fragend an mir hängen, als müssten wir uns begegnen auf der Schwelle des Fremden, dieser dunklen und schwermütigen Grenze des Bewusstseins…"

Diese flüchtige und stumme Begegnung im Fahrstuhl ihres Hotel in St. Moritz am 24. Dezember 1929 setzt die Autorin dem Treiben des mondänen Hotelbetriebs gegenüber: Ausgelassene WintersportlerInnen am Tage, Bälle und Dinner am Abend. Diese Erzählung hat unterschiedliche Tempi und Rhythmen. Die Ich-Erzählerin verbringt in diesem Hotel einige Tage umgeben von ihrer Familie, charmanten Kavalieren und von eifersüchtigen Freundinnen. Sie wartet auf ein Zeichen der geheimnisvollen Frau.

AVIVA-Tipp: Diese kurze Geschichte, angesiedelt im mondänen Ambiente der Alpen, beschreibt in einer sehr zarten Manier das lesbische Coming-out der jungen Autorin. Die Geschichte steckt voller Erotik, nur zart angedeutetem Begehren und anderen Erwartungen. Der Text haucht der Leserin diese Sehnsüchte und das Verlangen entgegen. Es handelt sich um einen sehr persönlichen Text aus dem Nachlass.



Alexandra Lavizzari
Fast eine Liebe

Annemarie Schwarzenbach und Carson McCullers
Edition Ebersbach, erschienen März 2008
Gebunden, ca. 144 Seiten
ISBN: 978-3-938740-55-2
18,00 Euro



Annemarie Schwarzenbach
Eine Frau zu sehen

Herausgegeben von Alexis Schwarzenbach
Kein + Aber Verlag, erschienen April 2008
Gebunden, 76 Seiten, mit Lesebändchen
ISBN: 9783036955230
12,90 Euro

Weitere Neuerscheinungen anlässlich des 100. Geburtstags:

Dominique Laure Miermont
Annemarie Schwarzenbach. Eine beflügelte Ungeduld

Originaltitel: Annemarie Schwarzenbach ou le mal d´Europe.
Amman Verlag, erschienen März 2008
Gebunden, 470 Seiten
ISBN: 9783250105206

Annemarie Schwarzenbach
Alle Wege sind offen

Die Reise nach Afghanistan 1939 / 1940.
Herausgegeben von Roger Perret
Lenos Verlag, erschienen Februar 2008
Gebunden, 171 Seiten, mit 8 Abbildungen
ISBN: 9783857873942

Annemarie Schwarzenbach
Bei diesem Regen

Erzählungen.
Herausgegeben von Roger Perret
Lenos Verlag, erschienen Februar 2008
Gebunden, 239 Seiten, mit 5 Abbildungen
ISBN: 9783857873959

Annemarie Schwarzenbach
Freunde um Bernhard

Roman.
Lenos Verlag, erschienen Februar 2008
Gebunden, 198 Seiten
ISBN: 9783857873904

Annemarie Schwarzenbach
Winter in Vorderasien

Tagebuch einer Reise.
Lenos Verlag, erschienen Februar 2008
Gebunden, 171 Seiten
ISBN: 9783857873928

Alexis Schwarzenbach
Auf der Schwelle des Fremden

Das Leben der Annemarie Schwarzenbach.
Collection Rolf Heyne, erschienen März 2008
Gebunden, 419 Seiten, Zahlreiche Abbildungen
ISBN: 9783899103687


Literatur

Beitrag vom 04.05.2008

AVIVA-Redaktion