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Beitrag vom 12.06.2008
Aus der Nacht – Cécile Wajsbrot
Anna-Lena Berscheid
Dieser Roman handelt vom Schweigen und vom Vergessen. Nahezu lyrisch beschreibt die Autorin die Reise ihrer Protagonistin nach Polen, in die Vergangenheit ihrer Elterngeneration.
Die Geschichte beginnt auf einem nächtlichen Bahnhof. Die Ich-Erzählerin wartet auf den Zug, mit dem sie in die Heimatstadt ihrer Großeltern reisen will. Diese sind vor dem Krieg aus Polen nach Frankreich geflohen. Die Flucht bewahrte die jüdische Familie vor der sicheren Deportation, ein Schicksal, das dem Rest der Familie nicht erspart blieb.
Aufgezogen von Großmutter, Vater und Tante fühlt sich die junge Erzählerin übergangen und vernachlässigt: Sie erfährt wenig über die Vergangenheit der Familie in Kielce und darüber, wie es ist, die Heimatstadt zu verlassen. In ihrer Gegenwart wurde sich über diese Themen stets ausgeschwiegen. Als die Großmutter stirbt und sowohl der Vater als auch die Tante an Alzheimer erkranken und damit das Vergessen einsetzt, beschließt sie, auf eigene Faust zu ihren Wurzeln in Polen zurückzukehren.
"Aus der Nacht" ist ein besonderer Roman. Cécile Wajsbrot lässt die Protagonistin immer wieder in den Monolog mit Stimmen der Vergangenheit treten. Dadurch zeichnet die Autorin ein Bild der tiefsten seelischen Zerrüttetheit: Ihre Figur ist gefangen zwischen dem Streben, dem Schweigen ihrer Familie zu entkommen und ihm doch gleichzeitig auf den Grund gehen zu wollen, es offenbaren sich Zweifel und die Angst vor der Konfrontation mit der Familiengeschichte.
Die einzelnen Kapitel des Buches leitet die Autorin mit kurzen Abhandlungen über die Gewohnheiten der Schneeeule ein. Diese können als Metapher für das einsame Leben der Protagonistin verstanden werden, eine Frau, die ihren Platz in der Welt noch nicht gefunden hat und auf der Suche nach ihren eigenen Wurzeln ist.
Zur Autorin: Cécile Wajsbrot wurde 1954 in Paris geboren. Sie studierte Literaturwissenschaften und arbeitete anschließend als Französischlehrerin und freie Redakteurin für den Rundfunk. Heute lebt sie als freie Schriftstellerin in Paris und Berlin, zur Zeit ist sie Stipendiatin des DAAD Künstlerprogramms. "Aus der Nacht" wurde für den Prix Renaudot und den Prix Femina nominiert. Von Cécile Wajsbrot erschienen außerdem im Liebeskind Verlag die Romane "Der Verrat" (2006), "Im Schatten der Tage" (2004) sowie "Mann und Frau den Mond betrachtend" (2003)
AVIVA-Tipp: Der Roman handelt vom Unwillen einer Generation, das Schweigen der eigenen Eltern hinzunehmen. Cécile Wajsbrot erzählt diese Geschichte in sehr sanften Tönen, ihre Sprache erinnert durch ihren Fluss, ihre Dichte und ihren Wohlklang mehr an Lyrik als an Prosa. Dadurch erzeugt sie in der recht handlungsarmen Geschichte eine betörende Intensität. Mit "Aus der Nacht" hat die Autorin einen beklemmenden und intensiven Appell gegen das Vergessen verfasst, der in seiner Darstellung wohl einzigartig ist.
Lesen Sie auch unser Interview mit Cécile Wajsbrot.
Aus der Nacht
Cécile Wajsbrot
Originaltitel: Mémorial
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Liebeskind Verlag, erschienen Februar 2008
gebunden mit Schutzumschlag, 218 Seiten
ISBN 978-3-935890-51-9
19,80 Euro