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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 17.10.2008


Sarah Jost und Gabriele Wachter – Die verschwundene Arbeit
Henriette Jankow

Der Band lädt mit Dokumentationsfotografien zu einem Streifzug durch die Arbeitswelten des 19. und 20. Jahrhunderts ein und liefert so einen Einblick in das Leben von Berliner ArbeiterInnen.




"Arbeit gehört zum Menschsein", heißt es im Vorwort des Fotobandes. Sie bietet die Existenzgrundlage, gibt dem Leben im Idealfall einen Daseinszweck. Dass Arbeit nicht immer etwas mit Selbstverwirklichung und Freiheit zu tun hat, sondern vielmehr einen Charakter der reinen Überlebenssicherung haben kann, ist auch in Zeiten global vernetzter, innovativer Unternehmen und voller Terminkalender nicht neu. Dennoch geht der Blick für die `kleinen Leute`, die ihr täglich Brot mit Fabrikarbeit und Kuriertätigkeiten verdienen, oftmals verloren.

Die Herausgeberinnen Sarah Jost und Gabriele Wachter zeigen auf etwa 300 Seiten Fotografien aus Zeiten, als Schokoladenwaren noch von Hand in Stuben verziert wurden, in denen man tags arbeitete und nachts schlief, und KleinhändlerInnen Kurzwaren auf Berlins belebten Straßen verkauften. In neun Kapiteln bieten sie einen Querschnitt menschlichen Schaffens des 19. und 20. Jahrhunderts in und um Berlin, der "Stadt der Arbeit". Zu sehen sind Bilder von "verschwundenen" Arbeiten, beispielsweise Wäscherinnen, Weberinnen oder Gasriechern, die heutzutage gar nicht mehr oder nur noch in stark abgeänderter Form ausgeführt werden.

Der gezeigte Fundus der Fotografien stammt sowohl aus privaten als auch kommerziellen Sammlungen und Archiven der Stadt Berlin. Im Fokus stehen dabei immer die arbeitenden Menschen, was der LeserIn gleichermaßen einen intimen Einblick in die Lebenswelten der StraßenhändlerInnen, FabrikarbeiterInnen und TelefonistInnen gewährt und die tatsächliche Rollenverteilung im Arbeitsleben des 19. und 20. Jahrhunderts vergegenwärtigt: Um die Jahrhundertwende fertigten Frauen Stoffe und Kleidung in Heimarbeit an und trugen so zur Überlebenssicherung der Familie bei. Sie wuschen in Wäschereibetrieben Kleidung und erledigten als Dienstmädchen die Einkäufe wohlhabender Familien. `Männerarbeiten`, wie die des Kutschers, fielen ihnen allenfalls in Zeiten des Krieges zu. Kaufmännische Berufe, Bauarbeiten, Arbeiten im Transport- und Verkehrswesen waren ebenfalls den Männern vorbehalten, wie auch die Aufsicht über die Arbeit der Frauen.

Die Fotos sind selten professionell inszeniert und verleihen dem Band so ein hohes Maß an Authentizität. Einige der sehr alten Schwarz-Weiß-Fotografien weisen qualitative Mängel auf, wurden aber um der Einzigartigkeit der Bilder willen dennoch in den Band mit aufgenommen. Sie zeigen die Schwerstarbeit, die hinter der Anfertigung von Körben, Kachelöfen und Näharbeiten steckt und erinnern an Zeiten, in denen Kleidung noch nicht maschinengefertigte Massenware war und Mehrwegflaschen von Hand gesäubert wurden. Als eine schöne Einführung in die jeweiligen Kapitel gelten die vorangehenden Zitate aus großen Werken der Literatur, Sachbüchern (Kultur- und Sittengeschichte Berlins) und ArbeiterInnensprüchen.

AVIVA-Tipp: Mit der Auswahl der gezeigten Fotografien ist den Herausgeberinnen ein sehr interessantes Dokument der Arbeits- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts gelungen. Schön aufbereitet, gut strukturiert und mit einer wissenschaftlichen Einführung der Historikerin Helga Grebing lädt der Band zum Schmökern und zuweilen auch zum Schmunzeln über skurrile Berufe ein. Die sorgfältig ausgewählten Schwarz-Weiß-Fotos wecken Interesse an den verschwundenen Arbeiten und verlieren dabei nie den Blick für die `kleinen Leute`.

Zu den Herausgeberinnen: Sarah Jost wurde 1979 in Konstanz geboren. Die Wahlberlinerin studierte Europäische Ethnologie und Geschichte.
Gabriele Wachter, 1963 in Ulm geboren, ist gelernte Buchhändlerin und Publizistin. 1992 gründete sie den Kunstbuchverlag Vice Versa und ist seit 2001 Geschäftsführerin des Parthas Verlages.

Sarah Jost / Gabriele Wachter (Hg.)
Die verschwundene Arbeit
in Fotografien aus Berliner Sammlungen und Archiven

mit einem Vorwort von Helga Grebing
Parthas Verlag, Berlin
Paperback, 312 Seiten
24 x 28 cm
ISBN: 978-3-86601-385-8
29,80 Euro



Literatur

Beitrag vom 17.10.2008

AVIVA-Redaktion