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Beitrag vom 17.07.2008
Mireille Marokvia – In Abels Land – Eine Autobiografie
Silvy Pommerenke
Das Leben geht manchmal seltsame Wege. Unter anderem das von Mireille Marokvia, die als Französin währen der Nazidiktatur mit ihrem Mann in Deutschland lebte. Nach über sechzig Jahren...
...hat die Autorin ihre Erinnerungen im braunen Reich aufgeschrieben und resümiert: so braun war es gar nicht.
Aber genau da liegt der Knackpunkt des Buches, der es manches Mal irritierend und erschütternd die Seiten umblättern lässt. Aber fangen wir von vorne an.
Savoir vivre
Mireille Marokvia, geboren 1908 in der Nähe von Chartres in Frankreich, lernt während ihres geisteswissenschaftlichen Studiums ihren zukünftigen Gatten – einen Deutschen, den sie anfangs für einen Russen hält – in Paris kennen und lieben. Er, ein lebensfroher Maler, Pianist und Charmeur, verfällt der späteren Autorin ebenso. Eine schwierige Beziehungskonstellation, wie sich bald herausstellen wird. Aber in ihrer anfänglichen Leidenschaft verdrängen die beiden die nationalen Unstimmigkeiten, genießen das savoir vivre und gehen gegen die deutsche Moral und Tugend an. Sie reisen viel, leben mal hier, mal dort, und lassen sich trotz aller Widrigkeiten Ende der dreißiger Jahre für sechs Monate in Deutschland nieder. Der Krieg mit all seinen Grausamkeiten und Nöten kommt dazwischen, und aus dem geplantem halben Jahr werden lange sieben Jahre, in denen die Autorin unter anderem als Weberin und Bäuerin lebt, während ihr Mann im Auftrag einer quasi militärischen Einheit in ganz Europa seine Einsätze hat.
Ignoranz und Naivität
Die Autorin hat sympathische Seiten, keine Frage, aber ihre Ignoranz und Naivität gegenüber der gewalttätigen Herrschaft während der Nazidiktatur kennt scheinbar keine Grenzen. Sei es, dass sie 1941 einen Judentransport beobachtet, aber keine Nachfragen stellt. 1943 erst spricht sie das Thema gegenüber einem Bekannten an, kann sich aber nicht erklären, was dieser mit den Worten meint: "Das waren Stuttgarter Juden, und sie sind in einen Zug gebracht worden, der nie irgendwo angekommen ist." Sie fragt nicht nach, lässt diese schrecklichen Tatsachen an sich vorbeiziehen, geht zum Tagesgeschehen über. Gleichzeitig schreibt sie nachdrücklich, dass sie immer mithörte, zwar Orte vergessen hätte, "aber nie, was gesagt wurde". Nur um eine Seite später über ein Gespräch zu resümieren, das sie mit einem Mitglied der Partei führte: "Ich glaube nicht, dass wir über etwas sprachen, was wert gewesen wäre, dass man sich daran erinnert."
Das Martyrium der Anderen
Es gibt Dutzende dieser Stellen im Buch, bei denen die LeserIn ein ungutes Gefühl beschleicht. Denn: Vermutlich ist es so gewesen, dass jede und jeder Einzelne um das eigene Überleben gekämpft, das Elend und Martyrium der Anderen verdrängt, und lediglich auf den nächsten Morgen gehofft hat. Die "Judenfrage" wird diskutiert, aber als Nichtjüdin ist dieses Thema sehr weit weg von der Autorin, somit erübrigt sich für sie eine Diskussion darüber oder gar ein Einschreiten. Wenn man Mireille Marokvia Glauben schenken darf, dann hat das ganze Deutsche Reich zum großen Teil aus unwissenden Gutmenschen bestanden, das nur ab und zu von einigen wenigen SS-Schergen (die aber meistens harmlos waren) heimgesucht wurde.
Sins of the Innocent
Wenn dem wirklich so gewesen wäre, dann hätte es den Holocaust niemals geben können. Die deutsche Übersetzung des aus dem Amerikanischen übertragenen Buchtitels lautet "In Abels Land". Passender ist in der Tat der Originaltitel, der "Sins of the Innocent" lautet, denn damit deutet die Autorin ihre "Sünde als Unschuldige" an. Sie macht sich schuldig durch ihre Passivität, durch das Wegschauen, und ob sie tatsächlich niemals mit "Heil Hitler" grüßte, sondern lediglich ein "Grüß Gott" auf den Lippen hatte, darf bezweifelt werden, denn andere erhielten dafür Sanktionen. Selbst als sie wegen vermeintlicher Spionagetätigkeit von der Gestapo angeklagt wird, klingt alles harmonisch und harmlos. Die Rückschau einer mittlerweile einhundertjährigen Frau scheint vieles weichgezeichnet zu haben, was im sogenannten Dritten Reich an Verbrechen verübt wurde. Auch der "weichgezeichnete" Ehemann, der als Mitarbeiter bei der OT (Organisation Todt – eine Sonderorganisation des NS-Staates, die für den Bau militärischer Anlagen eingerichtet war) als Berichterstatter arbeitete und sich nach Aussagen seiner Ehefrau vehement gegen die Nationalsozialisten wehrte. Beispielsweise soll er gegenüber einer Hitler-Anhängerin gesagt haben: "Wenn ich jemals eine Waffe trage ... dann, um ... Ihresgleichen zu erschießen." Dass solch eine Äußerung nicht von Sanktionen gestraft wurde, erstaunt angesichts unseres Nachwissens.
Weiterlesen: "Auf Wiedersehen in Paris. Als jüdische Immigrantin in Frankreich 1938-1945" von Helga Cazas und "Absprung über Feindesland: Agentinnen im Zweiten Weltkrieg" von Monika Siedentopf
Zur Autorin: Mireille Marokvia wurde 1908 in der Nähe von Chartres in Frankreich geboren. Nach dem Zweiten Weltkrieg wanderte sie mit ihrem Mann in die Vereinigten Staaten aus. Sie lebt heute als Autorin in New Mexico. (Quelle: Verlagsinformationen)
AVIVA-Tipp: Alles in allem scheint die Autobiografie von Mireille Marokvia extrem stark geglättet zu sein, was ihre Erinnerung, ihre Stellung und Positionierung in der Nazi-Zeit betrifft. Dennoch sind die Zeilen interessant zu lesen und geben die Innensicht einer Ausländerin während der unsäglichen Jahre 1939 bis 1945 in Deutschland wieder. Wenn da nicht dieses ungute Gefühl am Schluss der Lektüre übrig bleiben würde. Denn dass Deutschland nicht explizit aus WiderständlerInnen und Nazi-GegnerInnen bestand, das wissen wir mehr als genug. Sonst hätte es niemals diese ganzen Gräuel gegeben.
Mireille Marokvia
In Abels Land – Eine Autobiografie
Parthas Verlag, erschienen Mai 2008
Gebunden, 234 Seiten
ISBN: 9783866014909
24,90 Euro