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Beitrag vom 24.01.2007
Vier Minuten
Daniela Besser
Der im Ausland umjubelte und preisgekrönte Film zeigt beeindruckend, wie seelische und körperliche Gewalt einen Menschen zerstört. Und wie Musik ein letzter Anker in einer trostlosen Welt sein kann
Die ZuschauerInnen werden gleich zu Beginn des Films mit der ersten Kameraeinstellung geschockt: eine junge Frau hat sich in ihrer Gefängniszelle erhängt. Die Bildsprache vermittelt eine triste und trübe Atmosphäre. Es ist keine lebensfreundliche Umgebung, in der die junge Gefängnisinsassin Jenny von Loeben (gespielt von Hannah Herzsprung) leben muss. Und dass dieser Selbstmord keine emotionalen Reaktionen bei ihr auslösen, verstärkt. Welche Ursachen diese Abgestumpftheit hat, erfährt frau im Verlauf der Geschichte.
Eine Gegenwelt zum rauen und gewalttätigen Alltag im Knast stellt die klassische Musik, vertreten durch die Musikpädagogin Traude Krüger (Monica Bleibtreu), dar.
Sie gibt seit über sechzig Jahren Häftlingen wie VollzugsbeamtInnen im Frauengefängnis Klavierunterricht, aber es sind nur wenige und (meist) wenig begabte. Doch die wegen Mordes Einsitzende Jenny gehört nicht dazu. Sie war ein musikalisches Wunderkind, nahm an zahlreichen Wettbewerben teil und gewann Preise und Auszeichnungen zuhauf.
Als sie sich ihrer einzigsten Chance, aus dem grauen Gefängnisalltag auszubrechen beraubt sieht, dreht sie durch und prügelt einen Wärter brutal nieder. Ihre zerstörerische Wut ist beängstigend, ungeheuer authentisch vermittelt durch das intensive Spiel von Hannah Herzsprung. (Die Schauspielerin musste für ihre Rolle neben einem sechsmonatigen Klaviercoaching auch drei Monate Boxtraining absolvieren.)
Die Sehnsucht nach einem anderen Leben schimmert auf. Die Musik bietet Jenny einen Zugang zu ihren Gefühlen, im Klavierspiel kann sie sich zum Ausdruck bringen. Doch auch dabei soll sie nicht frei entscheiden können. Die unnachgiebige Traude Krüger will der jungen Frau ihre Vorstellungen von Musik aufdrücken. Obwohl keine der beiden Frauen aus ihrer Haut kann, überwinden sie ein Stück weit ihre eigenen Befindlichkeiten, um sich der anderen zu nähern.
In Rückblenden erfahren die KinobesucherInnen, wie Traude Krüger zu der wurde, die sie heute ist. Sie lebt einzig für und mit der Musik, Menschen interessieren sie nur am Rande. Auch bei ihr liegen die Gründe in der Erfahrung von seelischer Gewalt. An diesen beiden Frauenschicksalen wird exemplarisch die Vielfalt von Gewalterfahrungen veranschaulicht. Ungeachtet der individuell verschiedenen Lebensumstände, des Altersunterschiedes, ihrer persönlichen Ansichten, haben beide die existentielle Erfahrung von seelischer und körperlicher Gewalt gemacht. Die eine in den Zeiten von Krieg und Nazi-Terror als Lesbe und Geliebte einer Kommunistin, die erhängt wurde. Die andere (heute), durch "sanfte" Gewalt in frühen Jahren zu musikalischen Höchstleistungen getrieben, und, als sie sich diesen verweigerte, vom eigenen Vater sexuell missbraucht wurde. Ihr Freund, von dem sie schwanger war und für den sie einen Mord auf sich nahm, ließ sie sitzen. Bei Komplikationen während der Geburt ihres Kindes verweigerte man ihr eine angemessene Behandlung, weil sie dadurch angeblich nur längere Haftaussetzung erwirken wollte. Das Kind war fortgebracht worden, bevor sie wieder erwachte. Eine beklemmende Szenerie, die sich da vor dem inneren Auge der ZuschauerInnen entfaltet.
Die besonderen Momente des Films sind die, in denen die Frauen von diesen Schicksalsschlägen erzählen. Es entsteht eine intime Beziehung zwischen ihnen und doch bleiben sie bei alldem abgeklärt, werden nie rührselig. Das hat ihnen das Leben längst ausgetrieben, denn emotionale Wärme von Mitmenschen haben sie nie erlebt. Das Hauptaugenmerk des Films liegt auf den zwischenmenschlichen Beziehungen im Gefängnisalltag, der Umgang miteinander ist hasserfüllt und von psychischer und physischer Gewalt durchzogen. Kein schönes Leben! Das kann Jenny nur in ganz besonderen vier Minuten erleben. Die sehen wir aber erst zum Schluss des Filmes, bis dahin wird das Kinopublikum tief berührt und verstärkt durch die Geschichte und das grandiose Spiel von Sven Pippig, Richy Müller, Jasmin Tabatabei, Stefan Kurt, Vadim Glowna, Nadja Uhl und ganz besonders der beiden Hauptdarstellerinnen Hannah Herzsprung und Monica Bleibtreu.
Zu den Schauspielerinnen:
Hannah Herzsprung wurde aus mehr als 1.200 Bewerberinnen für die Rolle der Jenny ausgewählt. Sie übernahm bei den Dreharbeiten alle Stunts selbst. Geboren 1981 als Tochter des Schauspielers Bernd Herzsprung, gab sie ihr Debüt in der Familienserie "Aus heiterem Himmel" (1997/98). Es folgten weitere Rollen in Fernsehfilmen, "Vier Minuten" ist Hannah Herzsprungs Kinodebütt.
Monica Bleibtreu wurde am Max-Reinhardt-Seminar in Wien ausgebildet, spielte u.a. beim Burgtheater, den Münchner Kammerspielen, dem Schauspielhaus Zürich, der Schaubühne Berlin und dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg. 1972 wurde sie mit der Goldenen Kamera ausgezeichnet. Für ihre Rolle als Katia Mann in Heinrich Breloers "Die Manns - Ein Jahrhundertroman" wurde Monica Bleibtreu mit dem Grimme-Preis in Gold ausgezeichnet, für "Marias letzte Reise" mit dem Bayerischen Fernsehpreis, dem Deutschen Fernsehpreis und dem Grimme-Preis.
AVIVA-Tipp: Ein ungewöhnlich schonungsloser Film, der durch die tragischen Lebensgeschichten zweier Frauen und den schauspielerischen Leistungen von Hannah Herzsprung und Monica Bleibtreu unter die Haut geht. Besonders das zerstörerisch-wütende Spiel von Hannah Herzsprung wird man lange nicht vergessen können.
Lesen Sie auch das Interview mit Hannah Herzsprung.
Vier Minuten
Ein Film von Chris Kraus.
DarstellerInnen: Monica Bleibtreu, Hannah Herzsprung, Sven Pippig, Richy Müller, Jasmin Tabatabai, Stefan Kurt, Vadim Glowna und Nadja Uhl
Drama, D 2006,
DVD-Infos:
- DVD-Start: 26. Oktober 2007
- englischen Untertitel
- Audiodeskription/ Hörfilmfassung für Blinde und deutschen Untertiteln für Hörgeschädigte
Bonusmaterial:
- Fotogalerie mit Bildern von den Dreharbeiten
- eine Trailershow
- 14-seitiges, umfangreiches Booklet ergänzt.
Die 2-DVD-Special-Edition bietet zusätzlich:
- Interviews mit Chris Kraus, Hannah Herzsprung, Monica Bleibtreu, Uta Schmidt
- Ein ausführlichem Making Of mit folgenden Kapiteln Preludium: Traum und Team, La Musica: Von Mozart bis Focks, Largo: Das Casting, Allegro Grazioso: Die Schauspieler, Finale Furioso: Das Abschlusskonzert, Fine Pianissimo
- Behind-the-Scenes-Material in Super 8
- Storyboards
- Ausschnitte der Preisverleihungen in Shanghai, München (BayerischenFilmpreis) und Berlin (Deutscher Filmpreis)
- Ein Mitschnitt der Urfassung von Jennys Abschlusskonzert, eingespielt von der Filmkomponistin Anette Focks
Weitere Infos: www.vierminuten.de
Neben zahlreichen Preisen auf ausländischen Film Festivals, darunter auch das hochangesehene Shanghai International Film Festival, erhält der Film auch hierzulande immer mehr Auszeichnungen:
4 Bayerische Filmpreise (Nachwuchspreis für die Produzentinnen Alexandra und Meike Kordes, Monica Bleibtreu als Beste Darstellerin, Hannah Herzsprung als Beste Nachwuchsdarstellerin und Chris Kraus für das Beste Drehbuch).