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Beitrag vom 18.05.2003
Lateinamerikanisches Kino auf dem Vormarsch
Kirsten Eisenberg
"City of God" ist paradoxerweise der Name jener Favela am Rande Rios, in der Gewalt und Drogen den Alltag beherrschen - Thema des gleichnamigen Films von Fernando Meirelles
"Wo willst Du die Kugel hinhaben? Hand oder Fuß?"
Diese Frage kommt nicht etwa aus dem Mund eines fiesen Mafiabosses, sondern wird von einem 18jährigen Drogendealer an einen Knirps von 4 Jahren gerichtet.
Die Szenen im Film des brasilianischen Regisseurs Fernando Meirelles sind schockierend. Am liebsten würde man verdrängen, dass es sich hier um authentische Erlebnisse handelt. Der Fotograf Paulo Lins lieferte mit seinem autobiografischen Roman die Vorlage für "City of God".
Lins wuchs in den 60er/ 70er Jahren selbst in der brasilianischen Favela mit dem fast paradiesisch anmutenden Namen auf. Doch was nach Palmen und Idylle klingt, ist in Wahrheit Armut und Brutalität eines Slums im Schatten des Zuckerhutes. Paulo lernte schnell, dass man sich an die ungeschriebenen Gesetze der Bandenchefs und den Sumpf aus Bandengesetzen, Gewalt und Korruption besser gewöhnt, wenn man überleben will.
In seinem Film verarbeitete Meirelles nun die knallharten Kindheits- und Jugend-Erinnerungen des Schriftstellers.
Erzählt wird die Geschichte einer Bande von Jungs, die zu Beginn einfach nur unbeschwerte, fußballspielende Teenager sind. Doch Löckchen (Leandro Firmino da Hora), Karotte, Bené (Phelipe Haagensen) und all die anderen Halbwüchsigen entwickeln sich im Laufe der 70er und 80er Jahre zu berüchtigten Killern und Drogenbossen, die ihr Revier mit brutaler Härte und ganzen Bergen von Munition kontrollieren.
Wer aufmuckt, kriegt eine Kugel in den Kopf, auch wenn er eben noch ein Freund war.
Die KinogängerInnen erleben diese Halbwelt aus der Sicht des jungen Buscapés (alias Paulo Lins, gespielt von Alexandre Rodrigues), der mit seiner Sanftmütigkeit so gar nicht zum knallharten Gangster taugt. Irgendwie mogelt er sich trotzdem durch, macht sich in brenzligen Situationen unsichtbar und entwickelt nebenbei seine Leidenschaft für die Fotografie. Was mit harmlosen Schnappschüssen seiner Freunde am Strand beginnt, wird schließlich zu einer Fahrkarte aus einem hoffnungslosen Dasein...
Wie Buscapé in der fiktiven Welt des Kinos hatte Paulo Lins das außergewöhnliche Glück, die City of God dank seines Talents verlassen zu können. Diese Chance ist im Regelfall allerdings fast gleich Null, was der Film unmissverständlich anhand der Figur Benés verdeutlicht: Seine Abschiedsparty, die den Ausstieg aus der Szene und den Neuanfang außerhalb der City of God zusammen mit seiner Freundin Angélica beschließen soll, endet auf tragische Weise.
Schüchtern flirtet Buscapé mit Angélica, ausgelassene Teenager albern fröhlich am Traumstrand von Rio. Im Kontrast zu diesen idyllischen, "normalen" Bildern zeigt Meirelles die gleichen Kids in erbitterten Ghetto-Schießereien als kalte Mörder. Die Schockwirkung ist umso größer, denn die ZuschauerInnen verbindet ein Stück Sympathie mit den Jugendlichen.
Irgendwann im Laufe des Films stumpft und schaltet man leider ab. Keiner kann wohl nach Verlassen des Kinos sagen, wie viele Menschen da sozusagen im Vorbeigehen und manchmal sogar aus "Spaß" abgeknallt worden sind. Selbst wenn wirklich alles der Realität entspräche, hätte auch hier der gute, alte Satz "Weniger ist mehr" gegolten. Reagiert man anfangs auf die Brutalität noch voller Entsetzen, reißt einen das Gemetzel der letzten Minuten kaum noch aus dem Gefühl der Resignation heraus.
Der Film ist neben der inhaltlichen Seite besonders hinsichtlich der Kameratechnik und des Drehbuchs ein Meisterwerk. Personen werden zunächst vorgestellt und Neugierde beim Zuschauer geschürt, bevor der Hinweis "Doch seine Geschichte ist noch nicht dran" den Film wieder in eine ganz andere Richtung und Zeitspanne lenkt. Mit Zooms, schnellen Schnitten und wackeligen Bildern werden die ZuschauerInnen bis zur Atemlosigkeit durch die Strassen der Stadt Gottes gejagt.
In seiner Geschwindigkeit und Schonungslosigkeit "Amores Perros" ganz ähnlich, gehört auch "City of God" zu den Aushängeschildern eines neuen, aufstrebenden lateinamerikanischen Kinos.
Der Film macht auf ein rückständiges, willkürliches System aufmerksam, in welchem man ohne Kriminalität im Netz von Drogendealern, korrupten Polizisten und Journalisten nicht existieren kann. Während am Ende einer der beiden Drogenbarone verhaftet wird, damit man den Medien ausreichend Material liefern kann, schenkt man dem anderen die Freiheit. Denn einer muß schließlich dafür sorgen, daß die schmutzigen Geschäfte zwischen den "Gesetzeshütern" und der Drogenwelt auch weiterhin reibungslos verlaufen.
Der neue brasilianische Präsident Lula wurde nicht zuletzt durch den Film zu einem idealistischen Vorhaben angeregt:
Er will den Drogenkrieg durch eine Sanierung der Slums von Rio beenden.
Man kann nur hoffen, dass es sich hierbei nicht um ebenso berechnende Polit-PR handelt, wie sie auch der Film zeigt.
City of God/ Cidade de Deus
Regie: Fernando Meirelles
Mit: Alexandre Rodrigues, Leandro Firmino de Hora, Phélipe Haagensen
Brasilien, Frankreich, USA 2002
Farbe, 128 Minuten
Kinostart: 8. Mai 2003