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Beitrag vom 30.03.2003
19 Gedichte wurden zum Film
Anja Kesting
"Einsam bist du sehr alleine - und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit", rezitiert Anna Thalbach aus Kästners "Kleines Solo". Der Film "Poem" ist eine Reise durch deutsche Lyrik und Prosa
Ralf Schmerberg, seines Zeichen Werbe- und Videoregisseur, hatte genug vom Idiotengeschwätz und Musikvideos im Fernsehen. "Vor allem die Figuren im Fernsehen haben immer mit mir geredet, als sei ich blöd. Ja, "blöd" ist das richtige Wort. Die Öffentlichkeit wird nicht mehr geistig gefordert", betont Schmerberg.
"Das Projekt "Poem" ist für mich wie ein momentaner Kontrast zu "Deutschland sucht den Superstar." Letzterer bedeutet in meinen Augen eine weitere Beschleunigung des medialen Wahnsinns. Dieses gekünstelte Gelächter und blöde Gegrinse ist so falsch, dass man etwas dagegen setzen muss. Eine Anleitung zum Beispiel, das, was uns traurig macht, in uns zuzulassen.
Herauszulassen. Positiv zu erleben." Und das ist dem ambitionierten Regisseur mit "Poem" hervorragend gelungen.
"Poem" soll seine ZuschauerInnen ermutigen, sich an Lyrik heranzuwagen. Schmerberg traute sich, was noch keiner vor ihm riskiert hat:
Ein Kinofilm über deutschsprachige Gedichte.
Die Auswahl der Werke dauerte allein zwei Jahre, in denen Schmerberg und die Autorin Antonia Keinz nur gelesen haben. Die Zusammenstellung der zeitlosen Werke ist eindrucksvoll gelungen.
Wie das wirkliche Leben aus hellen und dunklen Tagen besteht, spiegeln die Gedichte die beschwingten und traurige Seiten des Seins wider. Klaus Maria Brandauer zieht in Heinrich Heines "Der Schiffbrüchige" ein bitteres Resumée seines Daseins, das er für sinnlos hält. "Vorüber ist alles, Glück und Hoffnung, Hoffnung und Liebe". Die legendäre Primaballerina Marcia Haydée ist von ihren vergangenen enttäuschten Liebesbeziehungen verwundet, rechnet in ihrer Ode "An die Ritter aus Gold" von Elke Lasker-Schüler mit der falschen Sehnsucht ab. Schwermütig sitzt sie auf dem Balkon, während die Massen an der Copacabana feiern. Dagegen ist Meret Becker beim Rezitieren von "Sozusagen grundlos vergnügt", Autorin Mascha Kaléko, außerordentlich heiter und übermütig.
In "Ode an die Freude" zu den Klängen von Beethovens 9. Sinfonie ziehen 250 nackte Männer und Frauen in Kriegsbemalung und mit lautem Geheul in einen Kampf.
Aug in Aug stehend bewerfen sie sich mit Farbbeuteln. Eine abstruse Situation in einer brandenburgischen Sandgrube, die wahrlich zum Schmunzeln anregt. Das sind nur vier der 19 ausdruckstarken Szenen und Gedichten.
Fünf Jahre lang arbeitet der 38jährige an seinem Film. Von der deutschen Filmförderung erhielt er keinen Pfennig. Nur ein anglo-amerikanisches Produzententeam glaubte an den Erfolg seines Projektes. Mit dabei ist Ray Cooper, der Produzent von "Brazil". Nicht nur er ist begeistert von "Poem", sondern sicherlich auch die ZuschauerInnen, die es nach dem Verlassen des Kinos danach gelüstet, einen Gedichtband in die Hand zu nehmen.
"Poem"
Regie: Ralf Schmerberg
DarstellerInnen: Meret Becker, Luise Rainer, Klaus Maria Brandauer, Jürgen Vogel
und Anna Böttcher, David Bennent, Marcia Haydee, Hermann van Veen
Kamera: Darius Khondji, Robby Müller und Franz Lustig
Deutschland 2003
90 Minuten
Kinostart: April 2003
www.ottfilm.de