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Beitrag vom 16.08.2010
London Nights - Wie oft kann man sich verlieren ...
Evelyn Gaida
... und wieder finden? Und wer könnte dieser Fragestellung widerstehen? Ein Kompliment an die PR-Abteilung, die "London Nights" betreut. Vor allem aber ein großes Kompliment an den Film ...
... selbst, der die genannte Frage natürlich nicht beantworten kann, die ZuschauerInnen aber auch nicht mit den davon geweckten Erwartungen hängenlässt.
"Unmade Beds"
Das Rattern des Zuges, Morgenlicht fällt durch das Fenster auf einen jungen Mann, der auf seinem Sitz eingeschlafen ist, ansonsten Stille. Schon als Kind immer mit seiner Mutter unterwegs gewesen, erinnert er sich, 20 Betten seit seiner Abreise aus Madrid, genauso viele wie Lebensjahre, eigentlich zeitlebens unterwegs. Es folgen einige Bettsequenzen (der englische Originaltitel lautet sehr passend "Unmade Beds") mit schüchterner Morgen-danach-Verblüffung und Betretenheit, das Aufwachen neben fremden Leuten in skurrilen WGs. Schließlich Bett Nr. 21: Zwei nackte Füße baumeln von der Schlafstelle obendrüber herunter und Axl (Fernando Tielve), der Heimatlose, schaut mit seinem charakteristischen Waisenjungen-Welpenblick etwas beunruhigt auf diese gesichtslosen Körperteile. Dummerweise kann er sich später nie an etwas erinnern, wenn er zuviel getrunken hat. Diesmal ist er in einem besetzten Haus im hippen Londoner East End bei Mike (Richard Lintern) und Hannah (Katia Winter) gelandet, wo hauptsächlich KünstlerInnen und MusikerInnen wohnen. Hier findet der Wuschelkopf aus Spanien, der aussieht wie die unschuldige Version von Adam Green, einen mietfreien Unterschlupf.
Suche
Im East End verbinden sich Kunst und Rock´n´Roll, spielen KunststudentInnen in Rockbands. Das Schöne an "London Nights" ist dabei, dass der Film nicht in banal-inhaltsleere Szene-Selbstgefälligkeit und -bespiegelung verfällt, sondern es schafft, ein besonderes Lebensgefühl von GroßstadtstreunerInnen um die 20 und deren diffuse Suche einzufangen. Gleichzeitig kratzt er an der Hipster-Oberfläche und bringt Verlorenheit, Sehnsucht nach Geborgenheit sowie den Drang, genau diese zu vergessen und zu betäuben, in ausdrucksvollen Bildern ans Licht. Nicht unbedingt was für SzenegängerInnen also, sondern für alle, die an fremden Orten nach sich selbst suchen – oder vor sich selbst auf der Flucht sind.
Axl will in London außerdem seinen Vater aufspüren, der dort als Immobilienmakler arbeitet und ihn nicht kennt. Wenig glaubhaft als BWL-Student auf Wohnungssuche getarnt, trifft sich der verpeilte Twen einige Male mit dem freundlichen, vorerst nichts ahnenden Mann, dessen gepflegte Erscheinung ganz den Gepflogenheiten seines Berufsstandes entspricht. Eine bewegende Gratwanderung, die Axl sehr mitnimmt, und ein kurioser Gegensatz zu seinem eigenen Lebenswandel.
Rock´n´Roll
Diesen Lebensstil setzt Regisseur Alexis Dos Santos durch ein ebenso atmosphärisches wie hitziges Gebräu von Szenenwechseln um, das auch farblich an verlebendigte Polaroids erinnert. Die Ausschnitte des unbestimmt ins Offene treibenden Zeitlaufs übertragen den Eindruck, irgendwo auf unruhiger See zu sein. Selbstverlorener Tanz- und Alkoholrausch im Brit-Rock-Speed, Katerstimmung mit nudelgefüllt mampfenden Backen, verschlafen ranzige MitbewohnerInnen, unübersichtlich beim spontanen Sex verwickelte Gliedmaßen aus nächster, verschwommener Nähe – und immer wieder Gesichter, die zugleich von Orientierungslosigkeit, Zurückgelassenheit und emotionalem Hunger Bände sprechen. Die schauspielerischen Leistungen der jungen DarstellerInnen verleihen den Charakteren eine anrührende Natürlichkeit.
Begegnungen
Vera (Déborah Francois) aus Belgien wohnt im selben Haus wie Axl und sorgt für einen weiteren Kontrast zu dessen schweigsamer, aber zutraulich drolliger Art: mysteriös, unnahbar, entschieden und mit trockenem Humor. In einem Café zieht sie die Aufmerksamkeit eines gut aussehenden Fremden (Michiel Huisman) auf sich, der von da an nicht mehr von ihr lassen kann. Die Belgierin möchte in London ihre alte Liebe vergessen und stellt eine Bedingung: Jede(r) behält Namen, Adresse und Telefonnummer für sich, nur die wechselnden Orte der Treffen werden bekanntgegeben, sonst nichts. Hier hält die Filmromantik Einzug in die realitätsechte Darstellungsweise, was nicht ganz stimmig wirkt. Der Regisseur setzt diesem Bruch jedoch eine ausgefallene filmische Annäherung an die Begegnungen Veras und des "Röntgen-Manns" entgegen: 8mm-Clips, die innere Gedankenbilder der Handelnden einfließen lassen, von letzteren aufgenommene Polaroids, Nahaufnahmen und einen Reichtum an Beleuchtungsvariationen.
Alexis Dos Santos versteht es ausgezeichnet, dem Unvollständigen seinen eigenen Inhalt zu entlocken, das scheinbar Unspektakuläre in seiner Bedeutsamkeit zu zeigen. Die Leere und aufgeräumte Anonymität des Hotelzimmers wird dem knisternden Zusammentreffen des namenlos bleibenden jungen Mannes und Veras gegenübergestellt, das Surreale eines nächtlichen Hotelflurs durch eine taumelnd-unscharfe 8mm-Innenansicht hervorgehoben, und der Magnetismus spürbar, wenn der Fremde mit der Hand über die Kleidung der kühlen, neben ihm eingeschlafenen Vera gleitet, ohne sie zu berühren. Nachdem das Paar sich bei einem der Treffen verfehlt, geistern beide getrennt voneinander an den schweigenden Schauplätzen ihrer Begegnungen umher.
Eine entscheidende Antwort gibt "London Nights" dann schließlich doch: Darauf nämlich, was Fallschirmspringen mit alldem zu tun hat.
AVIVA-Tipp: Kein Generationenportrait, kein servierfertiger dramatischer Plot, keine tiefschürfenden lebensphilosophischen Erörterungen. Eben das zeichnet "London Nights" aus. Der Film greift kunstvoll die Energie des Unfertigen und Offenen im Leben einiger junger Leute aus verschiedenen Ländern auf, die in London zusammentreffen. Eine authentische emotionale Präsenz der Charaktere und eine ausdrucksstark inszenierte Bildlichkeit voller ungewohnter Perspektiven sind das Ergebnis. Wer sich auf das anteilnehmende Beobachten von Menschen, Situationen und unausgesprochenen Details einlassen kann, wird von "London Nights" in das Lebensgefühl dieser musikbegeisterten Twens mitten hineingezogen: Unterwegssein, Suche, Sehnsucht und Vergessenwollen in einer rauschhaften Zwischenwelt, vom Soundtrack potenziert.
Tipp 2: Nach dem (leider schlechten) deutschen Trailer zu urteilen, scheint der Film nur auf Englisch mit den Originalakzenten der Figuren zu funktionieren. Also am besten im OmU gucken!
Zum Regisseur: Alexis Dos Santos wurde in Buenos Aires geboren. Er studierte Architektur und dann Theater, bevor er sich an der Filmhochschule von Buenos Aires auf Regie spezialisierte. Dos Santos wirkte an mehreren Untergrund-Theaterprojekten mit, machte seine ersten Kurzfilme und ging dann mit einem Stipendium zum weiteren Studium nach England an die NFTS, wo er von Stephen Frears betreut wurde. Er drehte seinen ersten Spielfilm GLUE 2005/2006 in Argentinien und schrieb UNMADE BEDS (LONDON NIGHTS) in Paris als Stipendiat der Cinéfondation-Stiftung des Cannes Film Festivals.
London Nights
Unmade Beds
UK 2008
Buch und Regie: Alexis Dos Santos
DarstellerInnen: Déborah Francois ("L´enfant"), Fernando Tielve, Michiel Huisman, Iddo Goldberg, Richard Lintern, Katia Winter
Verleih: Kool Filmdistribution
Lauflänge: 93 Minuten
Kinostart: 12. August 2010
Weitere Infos finden Sie unter:
www.londonnights.de
www.facebook.com/pages/London-Nights
www.indiemoviesonline.com/unmade-beds
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