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Beitrag vom 21.06.2010
14 km - Auf der Suche nach dem Glück
Evelyn Gaida
Letzte Zuflucht Europa: Violeta, ein junges Mädchen aus Mali, soll mit einem älteren Mann verheiratet werden, der sie bereits misshandelt hat. Vollkommen auf sich gestellt verlässt sie ihr Dorf,...
... um flussaufwärts eine Arbeit zu suchen. Dort sieht die Situation ganz anders aus, als erwartet.
Für die Brüder Bouba und Mukela aus Niger gleicht Europa in ihrer Vorstellung einem paradiesischen Kontinent, dessen Bild sich aus Fernsehserien speist. Bouba ist ein begabter Fußballer, der die meiste Zeit in einer Autowerkstatt schuftet. Sein Traum: Von einem Talentscout entdeckt zu werden. Dafür stehen die Chancen in einem zentralafrikanischen Dorf jedoch schlecht. Mukela überredet seinen Bruder schließlich zu einer Reise ans vermeintliche Traumziel, die sich als zermürbender Kampf um Leben und Tod herausstellt. Sie führt durch einen großen Teil Nordafrikas bis an die spanische Küste: Nur 14 Kilometer liegen an der Meerenge von Cadiz zwischen den beiden Kontinenten. Doch selbst diese Strecke bedeutet eine ganze Welt.
Regisseur Gerardo Olivares macht auch für die ZuschauerInnen eine andere Welt erfahrbar. Die Alltagsszenerie eines nigerianischen Dorfes eröffnet sich zu Beginn wie mit der Handkamera aufgenommen vor ihren Augen, als würden sie mit Bouba und Mukela auf dem Moped die staubige Straße entlangschaukeln oder selbst im unvorstellbar überfüllten Kleinbus durch die schmutzige Windschutzscheibe starren. Authentizität und Lebensnähe werden im Lauf dieses Extrem-Roadtrips mit faszinierenden Landschaftsaufnahmen verbunden, in die sowohl die Unerbittlichkeit als auch die Schönheit der Natur eingehen.
Mitten in der Tenere-Wüste schließt Violeta sich den Brüdern an. Ein Lastwagen, dessen Fracht von Menschen, Tieren und Gepäckstücken doppelt so groß ist wie er selbst, hat die Reisenden dort abgesetzt. Von hier aus müssen sie zu Fuß den diffusen Richtungsangaben folgen, die der Fahrer ihnen mit auf den Weg gegeben hat. Gemeinsam irren die drei durch die Einöde: Unermessliche Weite, völlige Orientierungslosigkeit, zermarternde, an den Rand des Wahnsinns oder des Todes treibende Hitze gehen ineinander über, die Bilder werden immer eindringlicher und halluzinatorischer. Jäh kehrt Ruhe ein, als die Verdurstenden von Nomaden gefunden und zu deren Zeltlager mitgenommen werden.
Die Strapazen haben ihren Zenith mit der Wüstenetappe noch nicht überschritten. Ein eisiger Marsch im scheinbar endlosen Niemandsland des gerölligen Grenzgebietes zwischen Algerien und Marokko folgt unter anderem... Angesichts solcher Szenen lässt sich ausmalen, wie die Unerträglichkeit einer Rückkehr mit den bereits durchlebten Anstrengungen proportional anwächst - Grenzerfahrungen im wahrsten Sinne des Wortes. Die filmische Umsetzung schlachtet sie in "14 km" an keiner Stelle zum Zweck eines sensationslüsternen Sozial-Thrillers aus, sondern konzentriert sich auf Grundtatsachen. Immer wieder stoßen die Vorwärtsstrebenden ans Ende ihrer eigenen Möglichkeiten, die in Abhängigkeiten münden. Wird die Grenzpatrouille Erbarmen zeigen, der Schleuser noch mehr Geld verlangen? Besonders gilt diese Abhängigkeit für Violeta als alleinstehende Frau, vor der sich unaufhörlich neue Zwangslagen, Gefahren und Sackgassen auftun.
Der Regisseur weiß, wovon er erzählt: 2003 reiste er in den Niger, um eine Dokumentation über die Salzkarawanen in der Tenere-Wüste zu drehen. So erfuhr er direkt vor Ort von den Immigrationsrouten und den dortigen, oft brutalen und tragischen Ereignissen. Die gewohnten Nachrichtenbilder von erschöpften afrikanischen ImmigrantInnen auf schäbigen Booten erhalten in Olivares´ Spielfilm Dimensionen, die zumindest erahnen lassen, welche erlebte Wirklichkeit dahinter steht. Das entspricht dem erklärten Ziel des Regisseurs, Bilder von den Einwanderungsrouten zu zeigen, wie sie im Kino vorher noch nicht zu sehen waren. "14 km" wurde auf dem Filmfestival in Valladolid 2008 als Bester Film mit der "Goldenen Ähre" ausgezeichnet, der auch in den Kategorien "Beste Musik" und "Beste Kamera" gewann. Den LaiendarstellerInnen ist ihre Unerfahrenheit stellenweise anzumerken - das krude Los der ImmigrantInnen rückt dennoch ein ergreifendes Stück näher. Dabei macht die unvergleichliche Art, mit der die rettenden Wüstennomaden Tee, Beruhigung und uralte Tradition in ihre Gläser rieseln lassen, diesen Film fast allein schon sehenswert.
AVIVA-Tipp: Ein lebensnahes Roadmovie, das Naturschönheit und Überlebenskampf in packenden, manchmal hinreißenden, jedoch niemals reißerischen Bildern untrennbar vermischt. Die "14 Kilometer" als kürzeste Entfernung zwischen Afrika und Europa, so vermag dieser Film eindrucksvoll zu vermitteln, sind für afrikanische ImmigrantInnen nur die Spitze des Eisberges: Im Rücken, im Herzen und in den Knochen haben sie das schier endlose Wandern am Rande der Existenz. Regisseur Gerardo Olivares durchbricht die Distanz der herkömmlichen Berichterstattung und gibt den Schicksalen vieler AfrikanerInnen ein filmisches Gesicht, das sich einprägt.
Zum Regisseur: Gerardo Olivares, geboren 1964 in Cordoba, arbeitet seit 1991 als Dokumentarfilmregisseur. Er hat sich auf anthropologische und ethnographische Themen spezialisiert und ist hauptsächlich für das spanische Fernsehen und den französischen "Canal +" tätig. Der Dokumentarfilm "Caravan" (1995) über Salztransporte in der Tenere-Wüste gab den Anstoß zu "14 km".
Sein erster Spielfilm "La gran final" (2006) kam in Deutschland unter dem Titel "Das größte Spiel der Welt" ins Kino. (Quelle: Kairos Filmverleih)
14 km - Auf der Suche nach dem Glück
Originaltitel: 14 kilómetros
Spanien 2008
Originalfassung (Haussa/Französisch/Tamasheq/Arabisch) mit deutschen Untertiteln
Regie und Buch: Gerardo Olivares
DarstellerInnen: Adoum Moussa, Aminata Kanta, Illiassou Mahamadou Alzouma
Musik: Santi Vega, Youssou N´Dour
Verleih: Kairos Film Göttingen
Lauflänge: 95 Min.
Filmstart: 24. Juni 2010
Weitere Informationen finden Sie unter:
www.kairosfilm.de
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