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Beitrag vom 19.06.2025
Halina Hildebrand, Fotografin
By Toby Axelrod
"Es gibt Geschichten, die lassen mich bis heute nicht schlafen". Nach dem Terroranschlag vom 7. Oktober 2023 in Israel dokumentierte die vielseitige und weitgereiste Fotografin Halina Hildebrand zerstörte Orte und traf Überlebende des Massakers.
Die Fotografin Halina Hildebrand ist eine Ausnahmeerscheinung: Nach 25 Jahren als Heilpraktikerin wandte sie sich der Fotografie zu. Weitgehend autodidaktisch, verfügt sie heute über ein umfangreiches Werk, aus dem sie im Mai 2025 im Gespräch mit der Historikerin Sigalit Meidler-Wachs einige Werke einem interessierten Publikum im Rahmen einer Veranstaltung des Berliner Jüdischen Salons Varnhagens Töchter präsentierte.

Hildebrands Fotos sind mal dokumentarisch, mal poetisch oder symbolisch aufgeladen. Manche zeigen Gesichter, andere Orte oder Objekte. Ihr Handwerk ist mit ihr gewachsen, während sie sich durch die Landschaft des Lebens mit all seinen Freuden und Nöten bewegte.
Die 1953 als Halina Krasinska in Polen geborene Fotografin lebte in den USA, Italien und München, bevor sie 1996 nach Berlin zog. Ihre Werke, von dokumentarisch bis hin zu abstrakteren Kompositionen, sind vielschichtig – manchmal im wahrsten Sinne des Wortes. Ihr Antrieb ist es, Dinge sichtbar zu machen, die sonst übersehen würden: die Emotionen in den Gesichtern, die Geschichten hinter den Dingen.
Der Impuls zur eigentlichen fotografischen Laufbahn kam durch ein Gespräch mit ihrem Mann, dem Fotografen Ralph Hildebrand. "Ich habe zu ihm gesagt: Weißt du was? Ich fotografiere so gern – und habe überhaupt keine Kamera." Am nächsten Tag schenkte er ihr eine analoge Spiegelreflexkamera. "Und so hat es angefangen."
Sie belegte mehrere Fotografie-Kurse, hat zwar keine formale Ausbildung und lernte stattdessen durch praktische Erfahrung.
"Ich habe alles fotografiert. Ich stand stundenlang vor der Waschdecke und habe einen tropfenden Wasserhahn fotografiert. Ich habe aus dem fahrenden Auto heraus fotografiert. Ja, und so hat sich das dann mehr und mehr immer weiterentwickelt."
Es besteht eine Verbindung zwischen ihrer Arbeit als Heilpraktikerin und ihrer Tätigkeit als Fotografin. "Man muss wirklich alles tun, den Menschen gut zu verstehen, damit man die richtige Therapie machen kann. Und als ich angefangen habe zu fotografieren, habe ich festgestellt, dass ich, um ein wirklich gutes Porträt von einem Menschen zu machen, ihn auch wirklich kennen muss."
Ihre ersten Porträts entstanden im Rahmen ihrer Arbeit bei einem Träger, der Menschen mit körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen betreute. "Das war ein ganz normaler, fließender Übergang", sagt sie heute über den Wechsel von der Heilpraxis zur Fotografie. Es ging ihr nie um das perfekte Bild, sondern darum, Menschen in ihrer Würde zu zeigen – so, wie sie sind.
Ihre erste Reise mit dem Rucksack führte sie nach Myanmar, später auch nach Laos, Vietnam und Kambodscha. Auch dort fotografierte sie Menschen aus nächster Nähe. "Ganz andere soziale Umstände, ganz andere Lebensweisen", sagt sie: junge Mönche in ihrem Klassenzimmer, Frauen bei der Feldarbeit. Trotz großer Armut wirken die Menschen oft fröhlich, sagte sie – "das hat mich tief beeindruckt."
Später reiste sie nach Albanien, wo sie die starke Bedeutung von Gastfreundschaft erlebte. Sie spürte: Wer ein Haus betritt, ist in diesem Moment Teil der Familie.
Hildebrand blickt immer unter die Oberfläche – ob in New York, München, Indien oder Italien. Oft erkundet sie die Verbindung der Menschen zu ihrem Glauben. Sie und ihr Mann sind stets allein gereist, nie in Gruppen. "Und deshalb konnten wir alles in unserem Tempo machen und auch viel mit den Menschen kommunizieren: manchmal auf Englisch, manchmal auch mit den Händen, den Füßen," sagt sie lachend.
"Also, ich habe durchaus Fotos ohne Menschen aufgenommen – aber ich merke, dass die Kamera viel schneller [oben] ist, wenn Menschen dabei sind."
In Indien hat sie "deutlich mehr lachende Kinder erlebt als hier in Deutschland", fügt sie hinzu. "Sie liebten es, fotografiert zu werden. Ich zückte die Kamera – und dann setzten sie sich einfach hin."
Dort musste sie nie sagen: "Nicht lächeln." Hier in Deutschland sagt sie das manchmal, bei Erwachsenen, und fügt sie hinzu: "Es ist keine Zahnpasta-Werbung."
Während der Pandemie war es schwierig, Menschen zu fotografieren. Zuvor ergaben sich Themen immer auf Reisen. Doch nun musste sie ihren eigenen Hinterhof mit neuen Augen betrachten.
Hildebrand verbrachte viel Zeit im Wald – allein, mit der Kamera, auf der Suche nach einem neuen Zugang. Bei der dokumentarischen Fotografie ist das Motiv da, die Szene entfaltet sich vor ihren Augen. Im Wald war das anders. Sie wollte keine typischen Waldbilder machen – sondern etwas, das eher in Richtung Fine Art Photography geht. Dafür brauchte sie ein neues Konzept.
Die Antwort fand sie in ihrer eigenen Biografie. Sie hat als Kind an vielen Orten gelebt – immer ein Stück weit zwischen den Welten. Diese Erfahrung – das Leben in wechselnden Realitäten – kehrt in ihren Mehrfachbelichtungen wieder. Orte, Zeiten, Identitäten fließen ineinander. Keine klassische Inszenierung, sondern ein inneres Bild, zusammengesetzt aus Licht und Verdichtung.
"Ich mache das erste Bild, sehe das zweite nicht – und dann sehe ich das Resultat. Meine erste Realität, meine zweite Realität – und das Zusammenfügen der Bilder: die Realität, in der ich jetzt leben will."
Wie viel Raum nimmt ihr Jüdischsein in ihrer Fotografie ein, wollte Sigalit Meidler-Wachs von ihr wissen.

Und tatsächlich, ob sie nun durch den Wald oder durch die Städte ihres Lebens streift, "der einzige rote Faden, der sich durch mein Leben gezogen hat, ist, dass ich Jüdin bin", sagte Hildebrand dem Publikum in der Synagoge Pestalozzistraße in Berlin-Charlottenburg. Israel spielt dabei eine große Rolle. Sie schätzt, dass sie mindestens 15.000 Bilder von Israel gemacht hat. Sie besucht das Land mehrmals im Jahr.
In Israel, wie überall, stehen die Menschen im Mittelpunkt ihrer Aufnahmen: Sie fotografiert sie auf der Straße, bei Feiertagen und in ihren Militäruniformen. 2018 war sie in einem entdeckten Hamas-Tunnel nahe der Grenze – sein Ausgang lag bereits auf israelischem Gebiet. "Ich neige nicht zu Hysterie", sagt sie. "Ich bin rausgegangen und war pitschnass."
Die Vorstellung, mit welcher Absicht dieser Tunnel gebaut wurde – "das war schwer auszuhalten", erinnerte sie später. Ein Foto, das sie dort machte, zeigt zwei junge Soldatinnen im Wachdienst. Es bedrückt sie, dass so junge Frauen "ihren Armeedienst an einem solchen Ort leisten müssen. Und dass Israel sich immer noch so schützen muss."
Nach dem Terroranschlag vom 7. Oktober 2023 reiste Hildebrand mehrfach nach Israel. Sie wollte zerstörte Orte dokumentieren und Angehörige sowie Überlebende treffen – und das menschliche Gesicht hinter der politischen Katastrophe zeigen.

Zuerst fotografierte sie ausgebrannte Autos, die – soweit das Auge reicht – entlang der Straßen gestapelt waren. Dann die zerstörten Häuser. Die Wände sind offen, als hätte jemand mit der bloßen Hand hineingegriffen. Was sie besonders berührte, waren die Spuren des unterbrochenen Alltags – "Zeichen der Normalität" – die Spülmaschine, die noch offensteht; das Spielzeug, das einfach daliegt.
"Es gibt Geschichten, die lassen mich bis heute nicht schlafen", sagt sie. Eines ihrer Fotos zeigt eine Frau, es ist absichtlich unscharf. Für sie ist das Foto "stellvertretend für die hunderten israelischen jungen Frauen, die am 7. Oktober vergewaltigt worden sind. Es ist nicht scharf", weil es auch noch nicht in unserem Bewusstsein angekommen ist, erklärt sie.
"Die UN-Frauenrechtskommission hat sechs Monate gebraucht, um ein Statement dazu abzugeben. Sechs Monate. Die ganze #MeToo-Bewegung – kein Wort. Die israelischen Frauen wurden ignoriert. Und das [Bild] ist für mich symbolisch."

Hier, wie auf ihren vielen anderen Reisen, kamen die Geschichten zu ihr. Vielleicht auf die gleiche Weise, wie eine Heilpraktikerin sich mit einem Menschen in Not verbindet, indem sie ihm mit Verstand, Herz und Hand zuhört.
"Die Menschen in Israel hatten ein wahnsinniges Bedürfnis, darüber zu sprechen." Sie hat nicht fragen müssen, sagte sie.
Sie traf auch viele Menschen, die helfen wollten: Freiwillige aller Altersgruppen, die auf die Felder gingen, um bei der Ernte zu helfen. Da waren Uni-Professoren, Rentner, Jugendliche. Bei einem Gespräch mit einem Bauern sagte sie, dass sie es großartig findet, dass so viele Menschen helfen. "Und er guckt mich an und fragt: ´Warum?´" Warum mussten so viele Leute leiden?
Heute tendiert Hildebrand stärker zur politisch-dokumentarischen Arbeit. Es berührt sie tiefer als die künstlerische, sagt sie. "Die künstlerische Arbeit – das ist wie ein Pflaster, wenn die Seele verletzt ist."
Nachdem sie in die dunkle Geschichte nach dem 7. Oktober eingetaucht war, brauchte sie etwas, das ihre Kreativität wieder weckte – und nicht nur ihre Empathie, ihr Mitgefühl, ihre Solidarität. "Dann bin ich ein Stück weit zurück in die kreative Arbeit."
"Und was macht glücklich? Blumen." Sie hat dann angefangen, künstlerisch Blumen zu fotografieren. Wie immer, mit viele Schichten. Und auch wie immer: "Wenn man genau hinguckt, sind sie doch nicht ganz leicht."
Mehr Informationen zu Halina Hildebrand und ihren Arbeiten unter: www.halinahildebrand.eu
Copyright Text: Toby Axelrod
Copyright Opener-Foto der Rose und der Fotos vom 7. Oktober 2023 in Israel: Halina Hildebrand
Copyright Fotos von Halina Hildebrand und Sigalit Meidler-Wachs: Ralph Hildebrand