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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 05.05.2020


Lust auf Film - Das Münchner DOK.fest geht online
Bianka Piringer

Reihenweise werden Filmfestivals im Jahr der Corona-Krise abgesagt. Aber das Münchner DOK.fest, eines der bedeutendsten deutschen Festivals des Dokumentarfilms, findet vom 6. bis 24. Mai 2020 online statt. Somit werden die 121 Filme seines Programms landesweit einem Publikum zugänglich sein, das sich zwar für dokumentarische Entdeckungen aus aller Welt interessiert, aber ihretwegen nicht extra nach München reisen würde.




Beim Durchstöbern des Programms fällt auf, dass viele Filme die Frage der persönlichen Identität thematisieren. Wie gehen Menschen mit ihren Wurzeln um, wie schälen sie sich aus dem Korsett sozialer Normen oder Benachteiligungen heraus, ohne Prägungen zu verleugnen?

In "Toni Morrison: The Pieces I Am" des amerikanischen Filmemachers Timothy Greenfield-Sanders erzählt vor allem die 2019 verstorbene Literaturnobelpreisträgerin selbst über ihr Leben und ihre Werke. Die Afroamerikanerin spricht mit erfrischendem Humor beispielsweise über ihre geistige und kreative Befreiung, die einsetzte, als sie "den kleinen weißen Mann", der auf ihrer Schulter saß, wegschnippte. Toni Morrison weigerte sich, für ein weißes Publikum zu schreiben, sondern goss mit Vorliebe und schon in ihren ersten Romanen "Sehr blaue Augen" und "Sula" das Lebensgefühl schwarzer Mädchen und Frauen in literarische Sprache.

Die Schatten der Shoah im Leben der Enkel*innen

Die Frage nach der eigenen Identität ist für die junge Dokumentarfilmerin Sharon Ryba-Kahn eng mit der Shoah in der Geschichte ihrer Familie verbunden. Ihr Abschlussfilm "Displaced" an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf wird als Weltpremiere gezeigt. Er ist auch Teil der diesjährigen Schwerpunktreihe des Festivals, die sich 75 Jahre nach Kriegsende mit dem Nationalsozialismus aus Sicht von Zeitzeug*innen und von jüngeren Menschen befasst, die mehr über die Geschichte ihrer Familie wissen wollen.

Die in München geborene Sharon Ryba-Kahn ging im Alter von 14 Jahren nach Israel, studierte in Paris und New York und zog 2007 nach Berlin. In ihrem Film will sie mit ihrem Vater, zu dem sie ein distanziertes Verhältnis hat, über die Geschichte seiner Familie sprechen, auch um ihn selbst besser zu verstehen. Seine Eltern ließen sich nach dem Krieg in München nieder, wo er zur Welt kam und aufwuchs. Sein Vater hatte das KZ Auschwitz, die Mutter das Arbeitslager überlebt. Das Holocaust-Trauma und was es bedeutete, im Land der Täter und Täterinnen zu leben, wurde in seinem Elternhaus nicht thematisiert.

Offen packt Ryba-Kahn als zweites Thema ihr eigenes Unbehagen in Deutschland an. So führt sie mit einigen ehemaligen Schulfreundinnen kontroverse Gespräche über das Gefühl des Andersseins, das sie schon in der Schulzeit begleitete, über eine wahrgenommene Abwehrhaltung, wenn es um das Sprechen über die NS-Zeit oder gegenwärtigen Antisemitismus geht.

Identität, Familie, Heimat

Weina Zhao zog als Vierjährige mit ihrer Mutter von China nach Wien. Oft verbrachte sie die Sommerferien in Peking. Aber über das Leben ihrer Großeltern weiß sie nur wenig. Gemeinsam mit Judith Benedikt führte sie Regie bei "Weiyena – Ein Heimatfilm". Darin erforscht sie ihr Verhältnis zu Familie und Heimat, die im Chinesischen unter einen Begriff fallen. In China erfährt sie im Gespräch mit den Großeltern, was sie unter der Kulturrevolution erleiden mussten. Weina Zhao macht sich Gedanken über seelische Verletzungen, die über Generationen weitervererbt werden. Aber auch Situationskomik hat in diesem sehr lebendig wirkenden Familienporträt ihren Platz, etwa wenn beim Drehen rund um den Küchentisch besprochen wird, wann die Oma zur Tür hereinkommen soll.

Deutscher Herbst und Terrorhysterie

Ein einzelnes Ereignis aus dem Jahr 1975 lässt der Künstlerin und Filmemacherin Ulrike Schaz bis heute keine Ruhe. Denn sie hat erfahren, was es heißt, als vermeintliche Terroristin aktenkundig zu werden: Einmal in die Welt gesetzt, pflanzt sich der falsche Verdacht von Behörde zu Behörde fort, lässt sich nicht mehr vollständig löschen, kann urplötzlich bei einer Grenzkontrolle wieder aus dem Nichts hervorschießen. In "Paris – Kein Tag ohne dich" arbeitet sie mit Gesprächen und künstlerischen Mitteln auf, wie die Terrorhysterie der 1970er in ihr Leben einbrach. Schaz war nach Paris gegangen, um Filmemacherin zu werden. Ihr französischer Freund nahm sie auf eine Student*innenparty mit. Als sie vor der Wohnung aufkreuzten, hatte der Terrorist Carlos dort wenige Stunden zuvor mehrere Menschen erschossen.

Auf eine albtraumhafte Untersuchungshaft folgte die Ausweisung. In deutschen Zeitungsartikeln wurde ihr Name in Verbindung mit Terrorismus genannt. Dabei kannte Ulrike Schaz Carlos gar nicht und gehörte nie einer Terrorgruppe an. Dieser Film ruft eindringlich in Erinnerung, wie aufgeheizt das gesellschaftliche Klima der 1970er Jahre war und wie leichtfertig unbescholtene Menschen als linksterroristische Staatsfeinde oder Sympathisanten*innen der Baader-Meinhof-Gruppe abgestempelt wurden.

Frauen finden neue Wege

Auf dem Dokumentarfilmfestival gibt es auch beispielsweise in Kenia, Kolumbien, dem Iran gedrehte Filme, die vielleicht nie den Weg in ein deutsches Kino oder Fernsehprogramm finden. In manchen von ihnen geht es um Frauen, die ihren traditionell beschränkten Handlungsspielraum erweitern und emanzipatorische Veränderungen in ihrem Umfeld in Gang setzen. Die dänische Regisseurin Katrine W. Kjær porträtiert in "Run Like a Girl" die kenianische Marathonläuferin Visiline Jepkesho. Als die junge Mutter, die aus einer Bauernfamilie mit elf Kindern stammt, 2016 den Pariser Marathon gewinnt, gratuliert ihr Präsident Kenyatta persönlich.

Visiline steht unter großem Druck, denn der Sport hat sie zur Ernährerin der Großfamilie gemacht. Ihren jüngeren Geschwistern finanziert sie die Schule, der Mutter einen Traktor. Für den Sieg bei einem internationalen Marathon kann es 50.000 Dollar Preisgeld geben, für den 2. Platz bekommt sie einmal nur noch die Hälfte. Die sanfte, freundliche Frau ist stolz auf ihr selbst finanziertes neues Haus, in dem es eine Küche mit Wasseranschluss gibt. Visiline wollte nie Hausfrau sein. Ihre Schwester Mercy genießt die Schule und prophezeit voller Stolz, dass um das Jahr 2030 herum Frauen Kenia regieren werden.

Ausbruch aus der Schönheitsnorm

In Europa äußert sich der soziale Anpassungsdruck, der auf Frauen ausgeübt wird, oft in der Beurteilung ihrer Körper. Die Dänin Helene, die Schwedin Pauline und die Norwegerinnen Marte und Wilde können ein Lied davon singen. Die jungen Protagonistinnen in "Fat Front" von Louise Detlefsen und Louise Unmack Kjeldsen sind übergewichtig und haben es einfach satt, nur noch ans Abnehmen zu denken. Sie haben vielmehr Lust, sich sexy zu kleiden, zu tanzen, ihre Körper zu mögen, so wie sie sind.

Sie werden Body Positivity-Aktivistinnen, schließen sich mit anderen zusammen und posten Bikinifotos von sich selbst in sozialen Netzwerken. Doch es bleibt ein täglicher Kampf, sich selbst zu akzeptieren. Die gesellschaftliche Toleranz für Diversität stößt in Fragen der weiblichen Körpermaße schnell an Grenzen.

Das Programm des DOK.fests findet sich hier:

www.dokfest-muenchen.de


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Beitrag vom 05.05.2020

AVIVA-Redaktion