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Beitrag vom 02.02.2020
Jolly Goods - Slowlife
Christina Mohr
Escaping statt Escapism: Auf diesen knappen Slogan ließe sich das neue Album von Jolly Goods herunterbrechen, aber genau diesem Drang zur (vermeintlichen) Effektivierung, Optimierung, Beschleunigung widersetzen sich die Schwestern Tanno Pippi und Angy Lord, die …
…vor Jahren aus dem Odenwald-Dörfchen Rimbach gen Berlin aufbrachen, oder besser gesagt ausbrachen.
2007 erschien die erste Platte Her.barium, die zweite ("Walrus") 2011. "Slowlife" wurde für Ende 2017 angekündigt, doch Jolly Goods erlaubten sich für die Vollendung zwei volle zusätzliche Jahre. Slowing down als Lebens- und Arbeitsprinzip: Angy Lord und Tanno Pippi spielen nicht mit, sind nicht einverstanden, stellen eigene Regeln auf und machen lieber gute Musik statt sich kapitalistisch-businessmäßig vorgegebenem Produktivitätszwang zu unterwerfen. Oder bleiben gleich zu Hause und essen ihre Pommes allein, bevor sie sich dummem Partygeschwätz ausliefern. Nachzuhören auf der im Dezember 2019 veröffentlichten Single "Eating Fries" und im Grunde jedem Song von "Slowlife".
Ob es darum geht, diesen Planeten zu verlassen, um anderswo mit freundlichen Aliens zu leben ("Desintegration") oder "50 E-Mails" dorthin zu verschieben wo sie hingehören (in den virtuellen Papierkorb nämlich): Jolly Goods zelebrieren die Verweigerung und treten den Selbsthass in die Tonne. Self hate is sucking all the energy singen Angy und Tanno zuckersüß und sind damit total zeitgemäß und doch Lichtjahre von Frauenzeitschrift-Weisheiten entfernt, die "uns" positiv empowern wollen, vorausgesetzt wir tragen den richtigen Lippenstift und besuchen den angesagten Yoga-Kurs. Doch dorthin passen Jolly Goods genau so wenig wie in andere Nischen, die Schwestern bauen sich selbst eine: "Slowlife" entstand komplett in Eigenregie, aufgenommen und produziert von Tanno Pippi im Kellerstudio. Ohne die Unterstützung so kredibler Leute wie Moses Schneider, Tobias Levin, Hans Unstern oder Dirk von Lowtzow, die bei "her.barium" und "Walrus" zugange waren: Jolly Goods haben sich freigeschwommen, langsam zwar, aber irreversibel. Input von außen war während der letzten Jahre nicht gewünscht, sagen Tanno Pippi und Angy Lord im Interview mit den Grether-Schwestern (ichbraucheeinegenie.de), nur das Urteil der jeweils anderen. Mit dieser selbstbewusst symbiotischen Haltung mussten Jolly Goods offenbar zwangsläufig beim österreichischen Label Siluh landen, das heuer – bezieht frau DIVES, Aivery, Luise Pop und Half Girl mit ein – auffallend viele interessante feministische Bands beherbergt.
Waren die Songs der beiden ersten Alben ganz reduziert um Stimme, Gitarre und/oder Keyboard und Schlagzeug aufgebaut, also eher lo-fi-Riot-Grrrlsm, schöpfen Jolly Goods heute aus einem ungleich reicheren Fundus: Synthesizer, Bläser, Vibraphon, Orgeln, Kontrabass und dicke Gitarrenschichten fügen sich zu einem detailreichen, tiefgründigen Sound, der Stilexperimente zulässt, ohne dass die geschwisterliche Handschrift verloren geht. Surfgitarren passen zur brummenden Tuba ("Heavy Feet"), Shoegaze verbindet sich selbstverständlich mit kunstvollem Pop im Geiste Kate Bushs oder Reminiszenzen an frühen Elektropop.
In der Anti-Institutionshymne "University Hell" bricht ungebremster Outrage-Rock aus, während in den meisten anderen Stücken das Tempo verschleppt und verlangsamt wird – wie gesagt, lieber einen Gang zurückschalten als mit den hektischen Business-Mäuschen zappeln. Interessant ist auch der Gesang: In den entschleunigten Jahren entwickelte Tanno Pippi eine Stimme, im übertragenen Sinn und ganz buchstäblich, von wispernder Kopfstimme bis wütendem Geschrei reicht ihre Bandbreite.
AVIVA-Tipp: Ein weiteres, machtvolles Instrument im Jolly Good´schen Orchester des Widerstands.
Jolly Goods
Slowlife
(Siluh, 17.1.2020)
LIVE:
2020-04-16 AUT - Wien, Wuk (+ Culk, Dives, Half Girl)
2020-04-17 AUT - Ried, Kik (+ Dives + Half Girl)
2020-04-18 AUT - Wels, Alter Schlachthof (+ Dives, Half Girl)
Mehr Infos:
www.JollyGoods.net
facebook.com/JollyGoods
jollygoods.bandcamp.com
twitter.com/jollygoods
Dieser Artikel ist zuerst erschienen in der Jungen Welt