1789 - Ein Film nach der Theaterinszenierung von Ariane Mnouchkine aus dem Jahr 1974. Ab 14. Juli 2017 erstmals auf DVD - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Kunst + Kultur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 21.07.2017


1789 - Ein Film nach der Theaterinszenierung von Ariane Mnouchkine aus dem Jahr 1974. Ab 14. Juli 2017 erstmals auf DVD
Tina Schreck

Die mehrfach ausgezeichnete Theaterregisseurin und Gründerin des Théâtre du Soleil, Ariane Mnouchkine ("Abenteuer in Rio", 1964, und "Molière", 1978), Grande Dame des französischen Theaters, wird am 28. August 2017 mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Am Jahrestag des Sturms auf die Bastille erscheint ihr Meisterwerk "1789", ein Filmmitschnitt ihres Stücks über die Französische Revolution.




Mit dem alternativen und gesellschaftskritischen Théâtre du Soleil, welches die Theaterintendantin mit ihren studentischen Mitstreiter_innen der "Association Théâtrale des Étudiants de Paris" 1964 gründete und bis heute leitet, rief Ariane Mnouchkine eine Institution mit großer internationaler Bedeutung ins Leben. Lange Zeit führte die damals noch junge Truppe ihre Stücke an immer wechselnden Orten auf, bis sie 1970 nach einigen erfolgreichen Produktionen wie "La Cuisine" oder "L´arbre sorcier, Jerôme et la tortue", ihr eigenes Theater im Bois de Vincennes im Osten von Paris bekam. Ihre Bühne: eine riesige Fabrikhalle, die Cartoucherie de Vincennes. Jährlich arbeiten dort etwa 70 Mitarbeiter_innen. Ob Schauspieler_innen oder Bühnenarbeiter_innen, alle Mitglieder werden gleichermaßen in den täglichen Theaterbetrieb involviert und dementsprechend zu gleichen Teilen für ihre Arbeit entlohnt. Das Théâtre du Soleil stellt eine der letzten Theatertruppen in Europa dar, die nach dem Modell einer selbstverwalteten Kooperative funktioniert.

"Pour un acteur ou une actrice, son âme, son coeur, son corps, sont ses outils de travail" - "Die Seele, das Herz und der Körper sind die Arbeitswerkzeuge eines Schauspielers oder einer Schauspielerin", so Ariane Mnouchkine in einem Gespräch ("Le théâtre ou la vie") vom 7. April 1984.

Die Truppe, 35 Berufs- und Amateurschauspieler_innen aus aller Welt, arbeitet mit Methoden und Techniken des Körpertheaters, welche sie sich in der Schule des französischen Theaterpädagogen und Schauspiellehrers Jacques Lecoq aneignete. Der einmalige Stil des Ensembles ergibt sich zum einen aus der Kombination von Pantomime, Kabarett, Akrobatik und Improvisation, zum anderen aber auch aus dem Spiel und der Phantasie der einzelnen Darsteller_innen. Die Wichtigkeit besteht laut Ariane Mnouchkine darin, dass sie Visionen haben. Sie sollen sehen, wovon sie sprechen und wohin sie gehen. Wie Kinder, die sich mit vollem Herzen in ihre Spielereien stürzen und sich ganz und gar in ihrer Rollen wiederfinden. Genau diese Leidenschaft für das Spiel soll dem Publikum glaubhaft vermittelt werden. Denn mit seinen sozialkritischen Theaterinszenierungen setzt sich das Ensemble zum Ziel, Mißstände aufzuzeigen, politisch aufzuklären und Einfluss auf die soziale Wirklichkeit zu nehmen. Ein wichtiges dramaturgisches Mittel hierfür ist auch die Anordnung von Bühne und Zuschauer_inneraum und damit die Integration der Zuschauer_innen, die quasi direkt in das Bühnenspiel eingebunden sind.

1789 - Ein packendes Revolutionspanorama

Mit der Produktion des Stückes gelang der Theatermacherin und ihrem Kollektiv 1970 der internationale Durchbruch. Mit Erscheinen der DVD wird das Chef d´Œuvre – welches in Frankreich längst zum Kultfilm avanciert ist - endlich auch dem deutschsprachigen Raum zugänglich gemacht. In dem Bühnenspiel lassen Gaukler_innen die wichtigsten Ereignisse der vergangenen beiden Revolutionsjahre Revue passieren und stellen die Malaise der französischen Bürger_innen des 18. Jahrhunderts aus Sicht der "kleinen Leute" dar. Es wird aufgezeigt, wie die Hoffnungen des Volkes auf Gerechtigkeit zerschlagen werden und die Aristokratie des Adels durch die Regentschaft der Reichen ersetzt wird. Erschreckend deutlich wird hierbei die Tatsache, dass durch Revolutionen vorherrschende Machtverhältnisse zwar verändert werden können, die Unterdrückung der Armen jedoch bleibt. Besonders die Frauen waren von Mittellosigkeit und Ausbeutung betroffen. Deutlich wird dies in einer der Schlüsselszenen des Stücks, wo einer Gebärenden das bereitgestellte saubere Wasser weggenommen und vom dreckigen Stiefel eines Adligen verschmutzt wird. Denn diesem, im Stück zynisch als besonders "christlich" bezeichneten Herrn, genügt es nicht die Körper der Menschen zu besitzen, er vergnügt sich zudem damit, ihre Seelen zu verletzen.

À la Bastille

Der Sturm auf das verhasste Staatsgefängnis am 14. Juli 1789 gilt als Auftakt der Französischen Revolution, bei dem sich aus Protest gegen die königliche Willkür tausende Pariser und Pariserinnen zusammengeschlossen hatten, um die Festung zu erobern und die dort inhaftierten Gefangenen zu befreien. Im Stück wird diese wesentliche Episode auf sehr authentische Weise inszeniert. Rückblickend berichten die Darsteller_innen detailliert vom Kampf um die Bastille und dem Sieg gegen den Klerus. Wie auf einem Rummelplatz mischen sie sich unter die Zuschauer_innen und schildern inbrünstig ihre Erlebnisse. Das durchdringende Stimmgewirr, welches von lautstarkem Trommelwirbel begleitet wird, zwingt die Schauspieler_innen regelrecht dazu, ihren Text dem Publikum entgegenzuschreien, was der Szene einen dramatischen Realismus verleiht.

Les femmes arrivent

Im Oktober 1789 zogen die Frauen nach Versailles, um die Abschaffung des Feudalismus´ und die Anerkennung der Menschenrechte einzufordern und den König und seine Gattin persönlich ins revolutionäre Paris zu bringen. Dargestellt wird diese Szene von weiß gekleideten Frauen, die zwei überdimensionale Puppen über ihren Köpfen tragen. Diese riesenhaften Marionetten verkörpern Louis XVI. und Marie Antoinette, die von den Poissarden gegen ihren Willen dem Volk ausgeliefert werden sollen. Unter lauten Jubelschreien stürmen die Siegerinnen der blutigen Auseinandersetzung durch die Menschenmenge und rufen im Chor:

"La révolution est finie!"

Doch dann plötzlich betretene Stille. Denn die Nationalversammlung verhängt ein Kriegsrecht über das Volk. Nach der anfänglichen Euphorie wird nun deutlich: der Kampf gegen die Ungerechtigkeit ist noch lange nicht gewonnen.

AVIVA-Tipp: "1789" ist ein imposantes Schauspiel voller Kraft und Ironie, bei dem Adel und Klerus gnadenlos karikiert werden. Der Theaterfilm zeigt in lebendigen Bildern das Leid der einfachen Bürger_innen und thematisiert sowohl die Ängste als auch den Kampfgeist der Menschen. Eine extravagante Inszenierung der großen Ariane Mnouchkine.

Zur Theaterregisseurin: Ariane Mnouchkine wurde am 3. März 1939 in Boulogne-sur-Seine in Frankreich in eine Künstler_innenfamilie hineingeboren. Ihr Vater, Alexandre Mnouchkine, ein jüdisch-russischer Emigrant, war Filmproduzent, und ihre aus England stammende Mutter die Schauspielerin June Hannen eine Tochter des Bühnenschauspielers Nicholas Hannen.
Als Studentin der Psychologie an der Pariser Sorbonne gründete Ariane Mnouchkine mit 20 Jahren eine freie Theatergruppe. 1964 ging aus dieser das "Théâtre du Soleil" hervor, das sie zusammen mit Philippe Léotard unter Mitwirkung von Jean-Claude Penchenat, Roberto Moscoso und Françoise Tournafond gründete. Nach ersten Erfolgen zog das "Sonnentheater" in den "Bois des Vincennes" am Stadtrand von Paris. Noch heute probt und inszeniert das Kollektiv von rund 40 Personen in den alten Backsteinhallen des ehemaligen Fabrikgeländes Cartoucherie in Vincennes. Das Théâtre du Soleil lässt sich für seine Bühnenperformances von den unterschiedlichsten Kulturen und Epochen inspirieren und orientiert sich daher sowohl an volkstümlichen Theaterformen wie der Commedia dell´arte, an fernöstlichen Traditionen, sowie an der antiken Tragödie.
Mnouchkine verfilmte u. a. das Leben Molières (1978), konzentrierte sich in den 1980er Jahren auf die Umsetzung von Shakespeare-Stücken, begann 1990 ihren Atriden-Zyklus mit Inszenierungen von Euripides und Aischylos und inszeniert nach Stückvorlagen von Hélène Cixous, eine der wichtigsten französischen Theoretikerinnen des Feminismus. Als Linksintellektuelle engagiert sich Mnouchkine zudem weit über das Theater hinaus. Im Juli 1979 gründete sie mit Claude Lelouch den internationalen Verein zur Verteidigung von Künstlerinnen und Künstlern, welche Opfer von Willkür und Verfolgung wurden AIDA (Association internationale de défense des artistes de la répression dans le monde).

Zur Auszeichnung: Ariane Mnouchkine erhält am 28. August 2017 den Goethepreis 2017 für ihr Lebenswerk

Die französische Regisseurin und Theaterintendantin wird mit dem renommierten Goethepreis ausgezeichnet, da sie, so das Kuratorium: "… mit der Gründung des Théatre du Soleil eine Institution der Theaterwelt von internationaler Bedeutung geschaffen habe". Sie ist damit die sechste Frau, die mit dieser Auszeichnung geehrt wird.

Ina Hartwig, die Kulturdezernentin der Stadt Frankfurt am Main, über Ariane Mnouchkine: "Als Regisseurin ist sie eine Zauberin, deren Stücke Menschen aller Schichten und Generationen fasziniert. Ihre künstlerische Arbeit ist einmalig, weil sie unterschiedlichste Einflüsse produktiv integriert und daraus etwas unverkennbar Neues geschaffen hat. Dass das Theater die Welt verändern kann, hat sie mit ihrem Lebenswerk unter Beweis gestellt."

Der Goethepreis wurde erstmals 1927 von der Stadt Frankfurt am Main verliehen, zu den Preisträger_innen gehören u.a. Albert Schweizer, Sigmund Freud, Thomas Mann und die Choreografin Pina Bausch. Der Preis wird alle drei Jahre am Geburtstag des Namensgebers Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) am 28. August in der Paulskirche in Frankfurt verliehen und ist mit 50.000 EUR dotiert.

Neben den ständigen Mitgliedern gehörten in diesem Jahr die Dichterin Monika Rinck, der Schriftsteller Marcel Beyer und der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Jürgen Kaube dem Kuratorium an.

Der Goethepreis wird Personen verliehen, die: "durch ihr Schaffen bereits zur Geltung gelangt und deren schöpferisches Wirken einer dem Andenken Goethes gewidmeten Ehrung würdig ist."

1789
Originaltitel. 1789
Land / Jahr: Frankreich 1974
Regie: Ariane Mnouchkine
Darsteller_innen: Roland Amstutz, Lucia Bensasson, Jean-Claude Bourbault, Philippe Caubère, Serge Coursan, Joséphine Derenne, Martine Francke
Sprachen: Deutsch, Französisch Untertitel: Deutsch
Extras: Trailer, Interviews mit Ariane Mnouchkine und Darsteller_innen
Filmlänge: 155 Min.
Tonformat: Deutsch, Französisch
FSK: Ab 6 Jahren
DVD Label: Alamode Filmdistribution OHG Vertrieb: Alive
VÖ 14.07.2017 Bestell-Nr.: 6417701
EAN 4042564177015
www.alamodefilm.de

Mehr Infos zu Ariane Mnouchkine und zum Théâtre du Soleil unter:

www.theatre-contemporain.net

www.theatre-du-soleil.fr


Mehr Infos zu Ariane Mnouchkine und zur Auszeichnung unter:

www.goethe.de

www.kultur-frankfurt.de

www.frankfurt.de

Literatur:

Ariane Mnouchkine und das Théâtre du Soleil

Hg. Josette Féral
Mit Photographien von Martine Franck
Alexander Verlag Berlin, erschienen 2003
ISBN: 978-3-89581-043-5
Fadenheftung, Klappenbroschur; 208 Seiten
24,90 Euro
www.alexander-verlag.com


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Beitrag vom 21.07.2017

Tina Schreck