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Beitrag vom 05.05.2017
Blondie – Pollinator und Fun Remixes
Lisa Baurmann
Nach der Vorab-Single "Fun" im Februar 2017 mussten Fans der Kultband noch drei Monate auf das elfte Studioalbum warten. Nun ist es endlich so weit. "Pollinator" beweist, dass Blondie nach über 40 Jahren und mehreren Comebacks nicht nur Legende ist, sondern immer noch quicklebendig – allen voran die unverwechselbare Frontfrau, Songschreiberin, Autorin und Schauspielerin Debbie Harry.
Die legendäre New-Yorker Clubszene der 70er Jahre ist das Substrat, auf dem Blondie gewachsen, und von dem aus sie angetreten sind, sich weltweit mit radio- und diskotauglichem Pop-Punk an die Spitze der Charts zu spielen. Für diese Szene stand auch das CBGB, lange eine der angesagtesten Adressen für aufstrebende, alternative Bands auf der Bowery Street in Manhattan. Die Band um Frontfrau und Sängerin Debbie Harry und Gitarrist Chris Stein spielte hier vor ihrem großen Durchbruch fast jedes Wochenende. Der Club wich 2005 wegen ins Unermessliche steigender Mieten einer Edelboutique. Ihr neues Studioalbum haben Blondie im Studio "The Magic Shop" aufgenommen, das 28 Jahre lang eine wichtige Anlaufstelle für vielfältige und hochkarätige Musiker_innen war, und sich ebenfalls in Manhattan befand. David Bowie nahm hier seine letzten zwei Alben auf. Nach den Aufnahmen für "Pollinator" musste auch diese musikalische Institution schließen – wegen erhöhter Mieten.
Mehr als lebendes Fossil
Während die Gentrifizierung New Yorks und der damit einhergehende Untergang der Musik- und Clubszene unaufhaltbar voran schreitet, gehören Blondie zu den lebenden Relikten dieser Szene. Und "Pollinator" lässt sich als Beweis dafür verstehen, denn die Band ist mit ihrem alten Sound zurück. Nach dem letzten Album "Ghost of Download", dessen musikalische Experimente eher eklektisch und etwas unmotiviert daher kamen, ist das eine deutliche Wende zurück zu den New-Yorker-Untergrund-Wurzeln.
Dabei hat die Gruppe um die charismatische Frontfrau Debbie Harry sich bemüht, keine bloße Reminiszenz an vergangene Zeiten zu schaffen. Mit spannenden Kollaborationen – Rocklegende Joan Jett, aber auch junge und aufregende Künstler_innen wie die australische Songwriterin und Sängerin Sia oder das aufstrebende Talent Charli XCX aus Großbritannien haben sich an dem Album beteiligt – zeigen sie sich anschlussfähig an aktuelle Trends.
Alte Größe unerreicht
Die rebellische Energie alter Hits wie "One Way Or Another" oder den innovativen Geist von "Rapture" aus dem Jahre 1981, in dem Harry – beeinflusst von der damals noch jungen New Yorker Hip-Hop-Szene – weite Teile rappt, erreicht die neue Platte allerdings nicht. Blondie lassen mit gewohnten Synthesizer- und Gitarrenklängen die Zeit von ihrem Debutalbum 1978 bis zur ersten Trennung 1982 wieder aufleben, aber klingen routinierter und leider auch etwas müde. Damit sollen keine Floskeln über alternde Rockmusiker_innen bedient werden, mit denen natürlich auch Blondie regelmäßig konfrontiert werden, allen voran Debbie Harry. Die Sängerin wurde und wird mit ihrem attraktiven Image oft nur als Aushängeschild gesehen und dabei als ernstzunehmende Songwriterin und kreative Triebfeder unterschätzt. Im Interview, das Harry und Stein im März 2017 dem Zeit-Magazin gegeben haben, kommentiert sie sarkastisch das Reduzieren von Frauen im Musikgeschäft auf Oberflächlichkeiten, dem sie damals wie heute begegnet:
"Wer tanzt, kann kein guter Sänger sein, denn guter Gesang erfordert volle Konzentration. Und wer ganz okay aussieht, kann nicht wirklich ein ernst zu nehmender Künstler sein. Man muss sich da wohl für eins von beidem entscheiden. [...] Es wird tatsächlich gerne mal übersehen, dass ich so manchen ganz guten Song geschrieben habe."
Dass Attraktivität und Kreativität keine Gegensätze sind, beweisen sowohl ihr Vermächtnis als Blondie-Frontfrau als auch ihre fünf Alben als Solokünstlerin. Aber die 70er und 80er, in denen Harry mit Blondie unvergessene Kulthits produzierte, sind einfach nicht mehr zu erreichen. Die vorab im Februar veröffentlichte Single "Fun", die mit ihrem Disko-Beat an alte Erfolge wie "Heart of Glass" anzuknüpfen versucht, klingt unbeschwert und frisch, dabei aber auch etwas trivial und wenig originell. Das gilt leider auch für die sieben Remixes der im März erschienenen Maxi-Single, die unter anderen DJ und Producer Crooked Man und Jazz-Bassist, Komponist und Remixer Greg Cohen produziert haben.
Bestäubung der nächsten Generation
Der Albumtitel kann als Metapher dafür gelten, wie die Band sich heute selbst versteht, und wie ihr neues Werk verstanden werden sollte. Als "Pollinator" – "Bestäuber" – waren sie Inspirationsquelle für unzählige und unterschiedlichste Künstler_innen wie für die Rapperin Princess Nokia oder die Pop-Ikone Lady Gaga. Das neue Album ist nun eine Art Hommage an die Ergebnisse ihres jahrzehntelangen musikalischen Einflusses. Harry und Stein, die als Songwriting-Duo so erfolgreich waren wie kaum ein anderes, interpretieren mit ihren Bandkollegen auf "Pollinator" Songs aus der Feder von Strokes-Gitarrist Nick Valensi, Sia, R&B-Künstler Dev Hynes alias Blood Orange und vielen anderen. Debbie Harry nennt es scherzend "ein Recycling-Jubelfest". Vielleicht ist die Kollaboration mit aufstrebenden jungen Musiker_innen auch ein Zeichen dafür, dass Blondie nun den Staffelstab an die jüngere Generation übergeben wollen. Das hätten sie sich verdient.
Die Entwicklung der Band über mehr als 40 Jahre hinweg erinnert durchaus an die Geschichte der Großstadt, mit der sie so eng verbunden sind. Veränderungen sind unaufhaltsam, und der Flair, der Zeitgeist einer Ära wird sich nicht für immer konservieren lassen. Wie bei Gentrifizierung verändert sich nicht alles immer zum Besseren. Aber auch wenn einiges nicht mehr so aufregend ist wie früher, und vieles dafür glatter und polierter, bleibt das große Ganze einzigartig und letztlich liebenswert.
AVIVA-Tipp: An frühere Hits kann "Pollinator" nicht heranreichen, dafür ist es zu wenig originell und vermisst das alte Temperament. Aber es zeigt, dass Blondie sich über die Jahrzehnte hinweg treu geblieben sind. Das wird vor allem die langjährigen Fans überzeugen können. Darüber hinaus muss die Band sicherlich niemandem mehr etwas beweisen.
Blondie
Pollinator
Label: BMG
VÖ: 05.05.2017
www.bmg.com
Blondie und Debbie Harry im Netz:
www.blondie.net – Offizielle Website
www.facebook.com/Blondie – Auf Facebook
twitter.com/blondieofficial – Twitter
www.blondie.net/#shows – Tourdaten
www.deborahharry.com – Debbie Harrys offizielle Website
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