Die Frau mit der Kamera – Porträt der Fotografin Abisag Tüllmann. Werkschau mit Filmen von Claudia von Alemann vom 7. April bis zum 12. Mai 2019 im Bundesplatz-Kino Berlin - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Kunst + Kultur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 01.06.2016


Die Frau mit der Kamera – Porträt der Fotografin Abisag Tüllmann. Werkschau mit Filmen von Claudia von Alemann vom 7. April bis zum 12. Mai 2019 im Bundesplatz-Kino Berlin
Laura Seibert

Eine gelungene Femmage an die Fotografin, die mit der Regisseurin Claudia von Alemann eine mehr als 30-jährige Freundschaft verband. In über 500 Aufnahmen erzählt das dokumentarische Filmessay Leben und Zeitgeschehen und lädt zur Kontemplation der Werke ein.




Abisag Tüllmann, geboren als Ursula Eva Tüllmann 1935 in Hagen, starb 1996 in Frankfurt am Main. Zwanzig Jahre später kommt nun ein Dokumentarfilm über sie in die Kinos. Das besondere dieses Films ist der freundschaftliche und künstlerische Blickwinkel der Regisseurin, die Abisag Tüllmann 1965 an der Hochschule für Gestaltung in Ulm kennenlernte.

Spurensuche

Die Regisseurin begibt sich auf eine Spurensuche, die in Abisag Tüllmanns Kindheit beginnt, über die sie nicht sonderlich viel zu erzählen pflegte. Der tastenden Recherche bleibt die Antwort auf einige Fragen verwehrt. In ihrer Kindheit musste Abisag Tüllmann gemeinsam mit ihrer Mutter fliehen, denn diese wurde von den Nazis als "Halbjüdin" verfolgt. Was genau mit Abisag Tüllmann und ihrer Mutter in der Zeit zwischen 1943-1945 geschah, lässt sich nicht mehr eindeutig rekonstruieren. Diese mangelnden Informationen sind keine Schwäche des Films, vielmehr zeigt die Offenlegung des Rechercheprozesses die Intention der Filmemacherin: Ein möglichst wahrhaftiges Porträt der Freundin. Aus diesem Anliegen ist ein bewegender Film entstanden, der das Werk der Wahlfrankfurterin in seiner ganzen Bandbreite präsentiert.
Die Dokumentation zeigt deshalb größtenteils Fotografien von Abisag Tüllmann, um sie anhand ihres eigenen Werkes zu porträtieren, eingebettet in Aufnahmen von Zeitgenoss_Innen und der Regisseurin. Briefe, Tagebucheinträge und Interviews vervollständigen diesen Blick. Das zeitpolitische Geschehen der 60er bis 90er Jahre wird gegenwärtig, mit dem Abisag Tüllmanns Werk eng verbunden ist.

Die politische Fotografin

Ihre ersten Aufnahmen machte sie mit einer Fotobox in Avignon, zu diesem Zeitpunkt noch Studentin der Innenarchtiektur, wo sie Roma- und Sinti-Kinder traf und fotografierte. Das Studium der Innenarchitektur gab sie auf, und widmete sich gänzlich der Fotografie.
Ihr vielseitiges Werk reicht von Theaterfotografie über Porträts hin zu Reportagen, jedoch schränkt sie den Gegenstand ihrer Arbeit nicht ein. Im Vordergrund stehen für sie die Menschen, und die Bedingungen, mit denen sie umgehen müssen.
Mit der präzisen und bedachten Art, die charakteristisch für die Fotografin ist, spricht sie über die Wirkung ihrer Bilder:

"Wenn ich Leute dazu bringen kann, nachzudenken, halte ich das schon für sehr viel."

Dass ihre Fotografien nicht nur nachdenklich stimmen, sondern auch zum Hinterfragen anregen, liegt zum einen an der Perspektive. Ihre Bilder sind nicht inszeniert, durch ihre eigene zurückhaltende Art und ihren unglaublichen Blick hält sie Momente fest, in denen sogar "Künftiges" zu sehen ist, wie ihre Freundin Helma Schleif es ausdrückt.
Zum anderen liegt es an den Menschen und Situationen, die sie für ihre Bilder wählt. Sie fotografiert bei dem Auschwitz-Prozess in Frankfurt 1964, bei den Studierendenprotesten 67/68 ebenda, beschäftigt sich mit den postkolonialen Entwicklungen u.a. in Algerien und im ehemaligen Rhodesien (heutiges Simbabwe) oder erschafft eine Porträtreihe von Obdachlosen. Nicht ohne Grund legte sie viel Wert darauf, nicht nur als Bildjournalistin zu gelten, sondern auch als Berichterstatterin.

Zwei Erzählstränge, vielfältige Perspektiven

Die unterschiedlichen Etappen von Abisag Tüllmanns Arbeiten werden in der Doku gezeigt und die Fotografien stets in ihrer Perspektive belassen. Zoomen kam dabei für die Regisseurin nicht in Frage, denn die unverfälschte Perspektive der Freundin soll zum Tragen kommen. Die Bildsequenzen werden begleitet von einem Kommentar der Regisseurin, unterbrochen von bewegten Aufnahmen der Orte, zu denen sie für ihre Recherche aufbrach.
Die Fotografien von Abisag Tüllmann sind ausschließlich Schwarz/Weiß, die Aufnahmen der Regisseurin hingegen in Farbe, wodurch ein lebhafter Kontrast entsteht, der sehr deutlich die zwei Erzählstränge unterscheidet. In einem kommt die Fotografin selbst durch ihre Aufnahmen zu Wort, der andere zeigt die bewegten Aufnahmen, die die Entstehung der Doku nachvollziehen und die Spurensuche der Regisseurin begleiten, meist in Panaromaeinstellung.

Ergänzend werden Interviews eingespielt, auch in Farbe gedreht, mit Barbara Klemm, einer Kollegin und Freundin, Helma Schleif und vielen anderen. In den 60er Jahren waren Barbara Klemm und Abisag Tüllmann in Frankfurt häufig an den gleichen Orten des politischen Geschehens, fotografierten und warteten gespannt darauf, wessen Bilder am Tag darauf in den Frankfurter Zeitungen publiziert wurden. Rückblickend erzählt die Kollegin, dass sie noch wenige Tage vor Abisag Tüllmanns Tod zusammen im Labor standen, da sie alleine nicht mehr arbeiten konnte, aber auch nicht aufs Entwickeln verzichten wollte.

AVIVA-Tipp: Der Regisseurin Claudia von Alemann ist es zu verdanken, Abisag Tüllmann und ihr Werk mit dieser sehr sehenswerten Doku wieder- oder neu entdecken zu können. Das Talent und Engagement ihrer Freundin zu würdigen, ist ihr in dem sensiblen Porträt mehr als gelungen.
Durch die sorgfältige und aufwendige Recherche sowie die Fülle der zusammengetragenen Informationen entsteht ein komplexes Mosaik, das in der Biographie fragmentarisch bleiben muss – gerade dadurch gewinnt der Film seine Authentizität. Die Aufnahmen der Fotografin lassen bei der Zuschauerin das Gefühl entstehen, statt im Kinosessel zu sitzen, in die vielfältigen Räume einer Ausstellung einzutauchen.

Werkschau mit Filmen von Claudia von Alemann vom 7. April bis zum 12. Mai 2019 im Bundesplatz-Kino Berlin

Die Filmemacherin Claudia von Alemann wird zu allen Vorstellungen anwesend sein - immer sonntags um 15.30 Uhr.

Bundesplatz-Kino Berlin
Bundesplatz 14
10715 Berlin
U + S-Bhf Bundesplatz (U9 - S 41,42,46). Bus 248, N9
Tel.: 030 / 85 40 60 85

Die Frau mit der Kamera – Porträt der Fotografin Abisag Tüllmann
Deutschland 2015
Buch, Regie, Produktion: Claudia von Alemann
Kamera: Rolf Coulanges, Verena Vargas Koch, Peter Zach
Musik: José Luis de Delás, Bernd Keul
Verleih: Film Kino Text
Lauflänge: 92 Minuten
Kinostart: 23. Juni 2016
Mehr Infos zum Film unter: www.diefraumitderkamera.de und filmkinotext.de

Zur Regisseurin: Claudia von Alemann ist 1943 in Seebach/Thüringen geboren und in Köln aufgewachsen. Anfang der 60er Jahre studierte sie an der Freien Universität Berlin Kunstgeschichte und Soziologie, 1964 begann sie an der Hochschule für Gestaltung in Ulm Film zu studieren. Mehrere Spielfilme entstanden unter ihrer Regie, unter anderem "Nebelland" (1981/82) und "Das Frauenzimmer" (1981). Für "Die Reise nach Lyon" (1978-80), ein Spielfilm, der von der französischen Frauenrechtlerin Flora Tristan handelt, realisierte Abisag Tüllmann die Fotografien. Das Buch "Das nächste Jahrhundert wird uns gehören. Frauen und Utopie 1830-1840" gab sie 1981 gemeinsam mit Dominique Jallamion und Bettina Schäfer heraus. Von 1982 bis 2006 arbeitete sie als Professorin an der FH Dortmund im Fachbereich Design. Sie ist Mitglied der European Filmacademy Berlin und lebt mit ihrem Mann, dem kubanischen Filmregisseur Fernando Pérez in Havanna, Köln und Berlin.
Ihr Film Die Frau mit der Kamera – Porträt der Fotografin Abisag Tüllmann wurde nominiert für den Hessischen Filmpreis 2015 in der Kategorie Dokumentarfilm.
Mehr Informationen zu Claudia von Alemann:
www.agdok.de
www.regisseurinnenguide.de

Die Fotografin Abisag Tüllmann: Ihr Künstlerinnenname "Abisag" kommt aus dem Hebräischen, sie wählte ihn in der Zeit als sie anfing, zu fotografieren. Ende der 50er Jahre volontierte sie in Frankfurt am Main bei dem Werbefotografen Dieter Jörs, währendessen bekam sie erste Aufträge, unter anderem von der Frankfurter Allgmeinen Zeitung und der Frankfurter Rundschau. In dieser Zeit wurde Frankfurt zu ihrer neuen Wahlheimat. Seit Anfang der 60er arbeitete Abisag Tüllmann als freiberufliche Bildjournalistin und publiziert Reportagen im Spiegel, in der Zeit, Magnum und Publik. 1964 begann sie mit der Theaterfotografie und dokumentierte Inszenierungen an Schauspielhäusern in Berlin, Brüssel und Wien und vielen anderen Orten. In den 70er Jahren übernahm die Fotografin vielfältige Lehraufträge als Dozentin für Reportagefotografie. Es entstanden Kontakte zu den Filmemacherinnen Jutta Brückner und Helke Sander, an deren Filmen "Tue recht und scheue niemand" (1975) und "Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers" (1977) sie mit ihren Fotografien beteiligt war. 1993 erhielt sie den Reinhold-Kurth-Kunstpreis der Frankfurter Sparkasse, 1994 den Sibylla-Merian-Förderpreis des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst. Am 24. September 1996 starb Abisag Tüllmann in Frankfurt am Main. Mit dem Erlös aus dem Archiv wurde 2008 die gemeinnützige Abisag Tüllmann Stiftung gegründet. Ihre Aufgaben sind die Förderung des künstlerischen Bildjournalimus´ durch die Auslobung des Abisag Tüllmann Preises sowie die Publikation und Ausstellung des Werkes der Fotografin.
Mehr Informationen zu Abisag Tüllmann:
www.abisag-tuellmann-stiftung.de
www.deutschefotothek.de
Bildarchiv der deutschen Fotothek
Literatur von und über Abisag Tüllmann im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Abisag Tüllmann im Online-Archiv des MMK Frankfurt

© Filmplakat: bpk (bpk Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte - Stiftung Preußischer Kulturbesitz)/Abisag Tüllmann


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Beitrag vom 01.06.2016

AVIVA-Redaktion