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Beitrag vom 12.10.2010
Berliner Sommergefühl - Yogi Tee statt Caipirinha
Isabell Serauky
Die AVIVA-Kolumne: Isabell Serauky wird an dieser Stelle in regelmäßigen Abständen Höhen und Tiefen, Absurditäten, Liebenswürdigkeiten und Aufreger der Hauptstadt schildern.
Kaum war es da, schwup die wup war es auch schon wieder weg. Das diesjährige Sommerfeeling hatte die Haltbarkeit eines Sushi Häppchens. Jeder noch so pessimistisch schwafelnde Wetterfrosch-Nerd traf letztlich ins Schwarze. Den paar hitzigen Momenten im Juli folgten apokalyptische Regenmassen und arktische Kälteausläufer. Der September ließ dann auch noch düstere Erinnerungen an die furchtbare Eiszeit der Januar-Tage aufflammen. Keine, die nicht musste, verließ ihre schmucken vier Wände.
Ich liebe alles was Light ist. Aber diese Version des Sommers in der Magerstufe überforderte auch die sonnigsten Gemüter.
Als ich dann auch noch, wie gewöhnlich im kalendarischen Sommer, über Stiegen mit Spekulatius stolperte, traf mich dieses Mal nicht der Schlag. Es setzte vielmehr augenblicklich eine bedrohliche Wesensveränderung ein. Mit einer schier unerträglichen Glückseligkeit blickte ich wohlwollend auf den würzigen Knabberspaß. Ich raffte, soweit das in meiner wattierten Outdoor-Jacke überhaupt möglich war, ordentliche Berge zusammen. Damit nicht genug, mit einer irritierenden Selbstverständlichkeit schielte ich auch gleich nach dem passenden Fläschlein Heidelbeer-Glühwein. Natürlich rein biologisch produziert, versteht sich. Schließlich fließt nur noch das Beste vom Besten durch unsere Kehlen, nachdem wir die 30iger Schallgrenze gerissen haben.
Zum Glück erwachte in diesem Moment des paranoiden Christmas-Taumels meine antrainierte Selbstzensur, erworben durch intensives Studium aller Lebenshilfebücher von A bis Z. Das Über-Ich bewahrte mich davor, in teutonischen Fatalismus zu verfallen.
Verdammt. Der Sommer war da und niemand bekam auch nur die Chance auf einen Sonnenstich. Warum regt sich darüber eigentlich keine/r auf? Schwüle Hitze, glühende Sonnenbrände, Klebenbleiben auf Plastikstühlen, intensive Wahrnehmung jeglicher Körperausdünstungen - all das wollten wir haben. Der puren Leichtigkeit sollte Berlin erliegen: Nackter Fleischbeschau rund um die Uhr, Abhängen in den Schickimicki-Strandbars, Lümmeln auf den drei hundefreien Wiesen und genial mediterranes Chaos in den Straßenschluchten. Ich hatte auf ein kalendarisches Durchglühen meiner geordneten Welt gesetzt. Das dolce fare niente ist uns doch von Oktober bis April komplett wesensfremd. Nun aber wollten ich mit den ersten züngelnden Sonnenstrahlen, den Caipi umklammernd, dem Nichtstun frönen.
Aber nüscht da! Ohne Sommersonne kein dolce fare niente.
Die Medien, stets verlässlich in der schillernden Darstellung einer auch nur angehauchten Randgefahr einer Apokalypse, verharren an dieser Kaltfront im blanken Schweigen. Wenn das mal nicht System hat.
Ist dieses meteorologische Sommerloch gar ein Ablenkungsmanöver von Schwarz-Gelb? Ganz nach dem Motto: Zügellosigkeit ist aller Laster Anfang. Haben wir doch gerade ganz tapfer die Krise mit Schmackes gewuppt, da soll doch bitteschön der Steuerrubel auch ordentlich rollen. Wie hinderlich wäre es da, wenn alle massenhaft in mediterrane Agonie verfallen!?
Aber so leicht bekam mich auch dieser Sommer nicht klein. In omnipräsente rote Decken gehüllt, verbrachte ich manch klamme Stunde im Freien. Die ökologisch unkorrekte Sehnsucht nach Heizpilzen wuchs ins Unermessliche. Kühne Gastronomen, von Imbissbuden bis Sterneschuppen, ließen sie dann im wonnigen Monat August aufglühen, dem drohenden Verwarnungsgeld zum Trotz.
Dennoch, der stets nach dem weihnachtlichen Schmaus einsetzende Körperkult vom Trimmen in der Muckibude, über das Rösten im Solarium bis zum Sado-Maso-Erlebnis Waxing - alles war verlorene Liebesmüh in diesem Jahr. Es gab praktisch keine Begegnung der menschlichen Spezies, die diesen Aufwand gerechtfertigt hätte. Die magere Frequenz der humanen Outdoor-Kontakte im Berliner Sommer dürfte mit denen Grönlands locker mithalten.
So ganz, ganz langsam sollte auch der glühend verehrte Landesvater Wowereit die Problemflut erkennen, nachdem sich der Sommer so nachhaltig vom Acker gemacht hat. Was machen wir künftig mit all den wunderbaren Parks und dem massenhaften Grün in der Stadt? Spielplätze nach strengsten pädagogischen und ökologischen Kriterien errichten? Fehlanzeige - wir bekommen ja unsere Kinder nicht mehr.
Also, alles in gigantische Hundeauslaufplätze ummodeln und damit ein weiteres einmaliges touristisches Highlight setzen? Berlin als Mekka für alle Hundefans: "Du und Dein Pudel. Taucht ab in den grünen Weiten der pulsierenden Metropole!" Das Kläffen der Marketingmaschinerie wäre phantastisch. Zudem, welch zauberhafte Vorstellung: Glückliche, schwanzwedelnde Vierbeiner aus allen Herren Länder würden unsere Stadt bevölkern. Die Vorfreude ist kaum zu unterdrücken.
Aber so viel Hoffnung ist nicht überall. Ganze Branchen kommen wegen der Fahnenflucht des Sommers ins Trudeln. Die sonst so hippen und smarten ModedesignerInnen geraten in fatale Sinnkrisen. Ihr kompletter kreativer Input für luftige Modelle ist für die Katz. Kurze, zarte Leibchen sind bei diesen Temperaturen bleierne Ladenhüter. Damit muss so ein erfolgreicher Kreativer erst einmal fertig werden.
Aber das Sterben geht weiter. Was machen wir aus den so heimelig eingerichteten Solarien? Ohne die Vision, die athletisch geformten nackten Arme und Beine in der Öffentlichkeit zu präsentieren, geht da doch keiner hin. Sind die so wunderbar parzellierten Bauten wenigstens als Wärmestuben nutzbar? Und erst unser heißgeliebtes Waxing - fünf Sommer dieser Art und niemand weiß mehr, ob es sich dabei um ein Limonaden-Mix-Getränk oder einen angesagten Club gehandelt hat. Was soll aus den Virtuosen des Heißwachses nur werden?
Fragen über Fragen und keine Antwort in Sicht.
Doch eine letzte Hoffnung keimt in mir auf: Die Klimaerwärmung! Könnte sie die Rettung bringen? So viel haben wir schon über sie gehört, seit Jahren. Ewig angekündigt, doch vorbeigekommen ist sie nicht. Die wunderbar altmodische Tugend der Geduld ist hier mal wieder gefragt. Bis die Klimamutantin nun herein rauscht, werden wir in rote Decken gehüllt, Heizpilze umklammern und mit sonnigen Gemüt auf sie warten. Vielleicht kommt sie ja 2011. Idealerweise in der Zeit von Mai bis September. Ich könnte mir da ein wenig Zeit freischaufeln, zwischen den Terminen für den Körperkult. Denn man weiß ja nie ... Die Hoffnung stirbt bekanntlich zum Schluss.
Die Autorin Isabell Serauky ist in ihrem anderen Leben Rechtsanwältin und hat eine Kanzlei im Berliner Prenzlauer Berg.
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