Das Fremde in mir - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Kultur Film



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 08.10.2008


Das Fremde in mir
Anna Opel

Warum freust du dich denn gar nicht? Berliner Regisseurin Emily Atef räumt in Oldenburg Preise ab mit einem Film über den freien Fall einer Frau, die nach einer Geburt ihres Kindes nichts empfindet.




Kaum ein persönliches Ereignis ist in unserer Gesellschaft so mit Erfüllungshoffnung aufgeladen, wie die Geburt eines Kindes. Aber was, wenn Erwartung und gefühlte Realität meilenweit auseinanderliegen?
Wie eine ganz normale Frau aus heiterem Himmel an Mangel an Gefühl für ihr Kind beinahe zugrunde geht, davon erzählt ein außergewöhnlicher Film: Das Fremde in mir.

Gleich zu Beginn spannt der Film die Skala emotionaler Gestimmtheit weit auf. Die Hauptfigur Rebecca sieht man zuerst von hinten, wie sie mit strähnigen Haaren willenlos durch einen Wald torkelt. Diese Frau ist am Ende. Dann dieselbe Person (Susanne Wolff), kaum wiederzuerkennen, hochschwanger und blühend in geradezu andächtiger Erwartung des Kindes, wie sie in ihrem Blumenladen steht. Liebevoll streichelt sie ihren Bauch, zärtlich spricht sie mit dem ungeborenen Kind.

Die Szenen im Wald sind unterbrochen von Augenblicken glücklicher Vorfreude, allein oder mit dem Kindsvater Julian (Johann von Bülow) in der neu bezogenen Wohnung. Es folgt die Geburt des Kindes, der Blick auf das Neugeborene als erster Moment der Befremdung. Stillversuche, hilflose Momente allein mit dem schreienden oder schweigenden Säugling, Abwehr gegen seine Anwesenheit. Momente der Isolation in der Zweisamkeit mit dem Kind. Ein Schreckmoment, als Rebecca in der Straßenbahn realisiert, dass sie ihr Kind an der Haltestelle vergessen hat. Und die düsteren, stockenden Erklärungsversuche gegenüber der Polizei, die schon herbeigerufen wurde. Rebecca spielt mit dem Gedanken, das Kind in der Badewanne einfach unterzutauchen.

Die Schauspielerin Susanne Wolff spielt ihre schwierige Rolle mit ruppiger Körperlichkeit und freudlos unbewegten Gesicht. Mit diesen Bildern wird deutlich, wie ungewohnt es ist, eine Mutter zu sehen, die ihr Kind nicht anstrahlt, ihm nicht als Prinzip des ewig verlässlichen Gegenübers begegnet. Häusliche Szenen sind eingewoben, in denen Rebecca, sichtlich fremd im eigenen Leben, das Fläschchen von hier nach dort räumt, als wäre es ein Gegenstand aus einer anderen Welt oder völlig verloren aus dem Fenster starrt und hölzern das Kind aus der Wiege nimmt. Fremd wird ihr in diesem Zustand auch Julian, der nicht begreift, was vor sich geht. Nicht mit dem Kind ist sie in dieser Situation beschäftigt, sondern mit ihrem schrecklichen Versagen als Mutter.

Einmal sieht man Rebecca am Strand mit dem Kind auf dem Arm, Julian badet, Kinder spielen und plötzlich geht sie ins Wasser, immer tiefer, bis sie vollkommen verschwunden ist.

Dass man lange nicht weiß, was genau vorgefallen ist, dass Rebecca sich niemals äußert und erklärt, unterlegt diesen ersten Teil des Films mit einer höchst beunruhigenden Grundstimmung. Erst als sich Mutter Lore (Maren Kroymann) und ihre Tochter nach Rebeccas Rettung am Krankenbett in den Armen liegen, als die Mutter verspricht, jetzt werde alles gut, löst sich etwas. Man weiß, das Kind lebt und die Geschichte kann weiter gehen.

Die ersten Schritte geht die noch Kranke nicht alleine. Der freundliche Psychologe Dr. Börner (effektvoll gegen den Typ besetzt: Herbert Fritsch) erklärt seinem erstarrten Gegenüber die Diagnose: postpartale Depression, die Psychotherapeutin Agnes (Dörte Lyssewski) hilft Rebecca, sich den Umgang mit dem Kind nach und nach selbst zuzutrauen. Treffen mit Vater, Mutter, Kind werden verordnet und begleitet.

Dass die Figuren Rebecca und Julian erst nach und nach verstehen, was eigentlich ist und mühsam einen Weg suchen, dass erst mit dem allmählichen Begreifen weitere Schritte der Annäherung möglich werden, diese Ruhe in der Erzählung macht die umwerfende Glaubwürdigkeit und Intensität des Films aus. Seine emotionale Kraft ist der kargen Filmsprache, vor allem aber der Leistung der großartigen Schauspielerin Susanne Wolff zu verdanken: ihre umfassende Verunsicherung, das Misstrauen gegenüber sich selbst, aber auch das zögernde Wiedererwachen ihrer Selbsteinschätzung, die Sehnsucht nach ihrem Kind, all diese Schritte und Stationen versieht Wolff mit wahrhaft schmerzender Intensität – gerade durch äußerste Zurückhaltung und Differenziertheit im Spiel.

Nachdem Rebecca endlich mit Julian geredet hat, geht sie schwimmen, lange ruhige Züge nimmt sie und dieses Mal trägt das Wasser sie.

"Das Fremde in mir" greift ein Tabuthema auf und weiht sein Publikum schonungslos, aber mit bemerkenswertem Respekt und Mitgefühl in dessen Abgründe ein. Doch handelt dieser Film eben gerade nicht nur vom Spezialfall einer Krankheit, sondern darüber hinaus von der oft fragilen Situation, in der Frauen, die zuvor ein selbständiges Leben führten, sich als Mütter plötzlich abgeschnitten von ihrem bisherigen Leben unglücklich und deshalb schuldig fühlen.
Die Regisseurin dramatisiert nicht, sondern erzählt sparsam und im besten Sinne effizient.

Auf dem Oldenburger Filmfest räumte der Film zu Recht alle Preise ab: den German Independent Award, den Publikumspreis und den Otto-Sprenger-Preis. Die Hauptdarstellerin war beim Filmfest in München als Beste Darstellerin ausgezeichnet worden.

Jährlich erkranken in Deutschland ca. 80 000 Frauen an einer postportalen Depression. Wer sich über das Thema informieren möchte, kann sich beim Verein Schatten & Licht – Krise nach der Geburt e.V. kundig machen:
www.schatten-und-licht.de

AVIVA-Tipp: Dieser wahrhaftige Film muss unbedingt sein Publikum finden. Einmal, weil er souverän und unaufdringlich erzählt ist und die Zuschauerin niemals belehrt, sondern sich dem Thema angemessen emphatisch und durchweg intelligent annimmt, weil die Hauptdarstellerin eine Entdeckung ist und weil eine so schonungslos ehrliche und präzise Auseinandersetzung mit dem ansonsten überideologisierten Thema Mutterschaft zur Abwechslung gut tut.

Lesen Sie auch unser Interview mit der Regisseurin Emily Atef.

Das Fremde in mir
Deutschland, 2008
Regie: Emily Atef
Drehbuch: Emily Atef, Esther Bernstorff
DarstellerInnen: Susanne Wolff, Johann von Bülow, Herbert Fritsch, Dörte Lyssewski, Judith Engel u.a.
99 Minuten.
Start am 16.10.2008
www.dasfremdeinmir.de


Kultur > Film

Beitrag vom 08.10.2008

AVIVA-Redaktion