AVIVA-Berlin >
Kultur > Ausgelesen
AVIVA-BERLIN.de im November 2024 -
Beitrag vom 04.07.2008
Interview mit Cécile Wajsbrot
Anna-Lena Berscheid
Die 1954 in Paris geborene Autorin von "Aus der Nacht", "Der Verrat", "Im Schatten der Tage" sowie "Mann und Frau den Mond betrachtend" sprach mit AVIVA-Berlin über das Schweigen und Vergessen.
Cécile Wajsbrot wurde 1954 in Paris geboren. Sie studierte Literaturwissenschaften und arbeitete anschließend als Französischlehrerin und freie Redakteurin für den Rundfunk. Heute lebt sie als freie Schriftstellerin in Paris und Berlin, zur Zeit ist sie Stipendiatin des DAAD Künstlerprogramms. "Aus der Nacht" wurde für den Prix Renaudot und den Prix Femina nominiert. Von Cécile Wajsbrot erschienen außerdem im Liebeskind Verlag die Romane "Der Verrat" (2006), "Im Schatten der Tage" (2004) sowie "Mann und Frau den Mond betrachtend" (2003). AVIVA-Berlin befragte Cécile Wajsbrot anlässlich ihres im Februar 2008 im Liebeskind Verlag erschienenen Romans "Aus der Nacht".
AVIVA-Berlin: "Aus der Nacht" enthält viele autobiographische Elemente. Welche besondere Aufgabe stellt sich für Sie als Autorin, die Verbindung zwischen der eigenen Geschichte und der Fiktion herzustellen?
Cécile Wajsbrot: Es gibt immer autobiographische Elemente in einem Roman. Nicht weil man über sein Leben berichtet, sondern insofern, als man, bewusst oder unbewusst, mit autobiographischer Materie zu tun hat. Die Frage ist, wie man diese Materie und andere Elemente in ein literarisches Werk verwandeln kann.
AVIVA-Berlin: In Ihrem Buch "Aus der Nacht" leiten Sie die einzelnen Abschnitte mit Ausführungen über das Leben von Schneeeulen ab. Wie ist diese Metapher zu verstehen?
Cécile Wajsbrot: Ich brauchte einen anderen Blick. Etwas leichteres... Die Schneeeule wirkt als Metapher der Unschuld, ihr Leben entwickelt sich nicht im Raum der Geschichte, sie wohnt in Landschaften, wo kein Mensch ist. Sie gilt auch als Bild der Einsamkeit, und als Zugvogel ist sie natürlich mit dem Thema Migration verbunden.
AVIVA-Berlin: Sowohl in ihrem neuen Werk "Aus der Nacht" als auch im Vorgänger "Der Verrat" geht es um Vergangenheitsbewältigung und Verdrängung. Inwiefern hilft Ihnen das Schreiben dabei, Ihre eigene Familiengeschichte zu verarbeiten?
Cécile Wajsbrot: Das war sicher der Impuls. Aber ich hoffe, meine Arbeit geht weiter als einfach meine Familiengeschichte zu verarbeiten. Ich habe nicht ausschließlich Bücher über Vergangenheitsbewältigung geschrieben, und auch diese sind als literarische Werke gemeint.
AVIVA-Berlin: Sie sind auch nach Kielce, in die Heimatstadt Ihrer Familie, gereist. Waren Ihre Erlebnisse dort ähnlich bedrückend wie die Ihrer Protagonistin? Welche Ängste hatten Sie vor Antritt der Reise? Welche Erkenntnis zogen Sie daraus?
Cécile Wajsbrot: Ich weiß nicht, was ich dort suchte. Kein Zuhause, da bin ich (fast) sicher. Ich wollte einfach dorthin reisen und es ansehen. Jetzt ist Kielce mehr als nur ein Name auf dem Papier. Trotzdem war diese Reise eigenartig. Obwohl ich nicht allein war, fühlte ich oft etwas Unheimliches, und dachte, was mache ich hier?
AVIVA-Berlin: Ihre Großmutter sagte, Deutsch sei "die Sprache des Feindes". Wie stehen Sie selbst zu dieser Sprache? Konnten Sie unbefangen Deutsch lernen?
Cécile Wajsbrot: Am Anfang war meine Beziehung zur deutschen Sprache ziemlich zwiespältig. Deutsch war die Sprache des Feindes, aber sie hatte auch einen vertrauen Klang wegen der jiddischen Sprache, die meine Großmutter mit meinen Eltern sprach. Aber das war ganz unbewusst. Es war wie Schleusen. Manchmal öffnete sich die Sprache, manchmal schloss sie sich wieder. Als mir dieser Prozess bewusst geworden ist, ging es viel besser. Jetzt gibt es nur noch Spuren von dieser ehemaligen Schwierigkeit. Zum Beispiel dann, wenn ich offizielle Post erhalte, habe ich immer Angst, dass ich nichts verstehe.
AVIVA-Berlin: Ihre Großeltern stammen aus Polen, Sie selbst sind in Frankreich aufgewachsen und leben jetzt in Deutschland. Wo befindet sich Ihre Heimat? Welche Sprache würden Sie als Ihre Muttersprache bezeichnen?
Cécile Wajsbrot: Ich bin in Paris geboren und aufgewachsen, lebe zur Zeit nur teilweise in Berlin. Heimat ist für mich kein einfacher Begriff. Mir kommt immer dieser Satz von Imre Kertesz in den Sinn: "Es ist etwas anderes, sich zu Hause heimatlos zu fühlen, als in der Fremde, wo man in der Heimatlosigkeit ein Zuhause finden kann." Das ist genau das, was ich in Berlin empfinde. Oder könnte ich sagen, dass Berlin meine zweite Heimat ist? Meine Muttersprache ist die französische Sprache. Ich schreibe auf Französisch, könnte es nicht anders machen – aber ich habe das Gefühl, dass meine Sprache wie entwurzelt ist.
AVIVA-Berlin: In Deutschland gibt es immer wieder Diskussionen um die Verantwortung der Nachkriegsgenerationen. Wie kann Ihrer Meinung nach angemessen mit der Thematik umgegangen werden? Was halten Sie davon, dass viele Jugendliche heutzutage jegliche Konfrontation mit der Shoa meiden?
Cécile Wajsbrot: Es ist schwer, den richtigen Abstand zu finden. Nicht zu nah, nicht zu weit. Man muss nicht vergessen, muss sich auch nicht immer erinnern. Jeder muss sein eigenes Leben leben. Ich gehöre zu der Generation der Nachgeborenen, die vom Krieg und der Vernichtung noch tief geprägt ist. Dass die jüngere Generationen nicht so davon geprägt sind, finde ich normal und auch gut. Das bedeutet nicht, dass sie es vermeiden sollten. Nur dass die Zeit vergeht, und dass wir, die Nachgeborenen, nach der Zeugengeneration andere Wege suchen müssen, nicht dokumentarisch sondern symbolisch, um das Gewissen der jüngeren Generationen zu berühren. Und vielleicht können wir es auch mit unserem Leben und mit unseren Werken beweisen, dass jede Generation ihre eigene Fragen und Antworten hat.
AVIVA-Berlin: Sie leben und arbeiten in Berlin. Was hat Sie dazu bewogen, Berlin als zweite Heimat anzunehmen?
Cécile Wajsbrot: Berlin ist eine Stadt, die mich tief berührt. Überall gibt es Gedenktafeln, Denkmale, Zeichen der Vergangenheitbewaltigung. Aber es gibt auch Raum für die Gegenwart und die Zukunft.
AVIVA-Berlin: Sie sagen, Sie könnten in Berlin besser Ihrer Arbeit als Autorin nachgehen. Weshalb ist es Ihnen in Paris nicht möglich gewesen, Ihr Werk fortzuführen? Worin bestehen die Unterschiede zwischen den beiden Städten hinsichtlich ihrer jeweils eigenen Auseinandersetzung mit ihrer unrühmlichen Vergangenheit?
Cécile Wajsbrot: Paris ist heute - schon seit Jahren - eine Museumsstadt geworden. Sehr schön, wenn man die Stadt besucht. Aber in Paris zu leben, dass heißt, dass es kaum Raum gibt, im physischen und geistigen Sinn. Alles ist schon besetzt. In Berlin sind die Leute einfacher, angenehmer – und man kann freier atmen.
AVIVA-Berlin: Sie sind Stipendiatin des DAAD Künstlerprogramms. Welche Aufgaben kommen dabei auf Sie zu? Wie wurden Sie in dieses Programm aufgenommen?
Cécile Wajsbrot: Man muss sich einfach bewerben, ein Projekt beschreiben, erklären, warum man in Berlin arbeiten muss. Und eine Jury trifft die Entscheidung. Jedes Jahr gibt es in Berlin 15 bis 20 Stipendiaten des DAAD Künstlerprogramms aus verschiedenen Kunstbereichen und Ländern.
AVIVA-Berlin: Neben Ihren Romanen und Erzählungen verfassen Sie auch Hörspiele. Worin besteht die besondere Herausforderung, wenn Sie für das Radio schreiben?
Cécile Wajsbrot: Das Radio inspiriert mich. Ich kann in diesen Texten neue Formen ausprobieren, die ich später in den Romanen weiter untersuche und fortführe.
AVIVA-Berlin: Sie befassen sich in Ihren Büchern mit der Vergangenheit, auch mit Ihrer eigenen. Wie planen Sie Ihre Zukunft?
Cécile Wajsbrot: Die Zukunft lässt sich nicht planen!
AVIVA-Berlin: Vielen Dank für das Interview!
Lesen Sie auch unsere Rezension zu "Aus der Nacht" von Cécile Wajsbrot.