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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 19.09.2007


Sexualisierte Gewalt. Weibliche Erfahrungen in NS-Konzentrationslagern
Martina Weibel

Im Rahmen der Sommeruni Ravensbrück "Zwangsprostitution und Krieg im 20. und beginnenden 21.Jahrhundert" recherchierte Brigitte Halbmayr zu Sexzwangsarbeit in nationalsozialistischen Lagern.




Von Schweigen umhüllt

"Es liegt ein Sprechen vor, in dem man das, was gesprochen wird, nachdem es gesagt wurde sofort wieder ausradiert, das Sprechen soll das Gesprochene wieder löschen, aber das geht nicht. Das Gesprochene taucht, im Gelöschtwerden, immer wieder auf", so Elfriede Jelinek im Vorwort des Buches "Sexualisierte Gewalt. Weibliche Erfahrungen in NS-Konzentrationslagern".

In dieser Publikation benennen die Autorinnen Helga Amesberger, Katrin Auer und Brigitte Halbmayr ein tabuisiertes Thema und zeigen, in welch tiefgehender Weise der nationalsozialistische Staat seine Gewalt gegen die Seelen und Körper von Frauen richtete.

Brigitte Halbmayr, geboren 1965, ist Soziologin und Politikwissenschaftlerin. Sie arbeitet im Institut für Konfliktforschung in Wien und ist im Vorstand der österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück tätig.

AVIVA-Berlin: Frau Halbmayr, das Thema sexualisierte Gewalt in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern stellte lange Zeit eher eine Marginalie in der wissenschaftlichen Forschung dar. Es wurde sehr wenig zur Kenntnis genommen, wie sexuelle Gewalt gegen die inhaftierten Frauen eingesetzt wurde und dass für viele schon der erste entsetzliche Eindruck des Lagers in Verbindung mit sexualisierter Gewalt stand.
Brigitte Halbmayr: Von den Interviews, die wir geführt haben, gibt es, glaube ich, keines, bei dem die Frauen nicht auf dieses „Aufnahmeritual“ im Lager zu sprechen kamen. Eingeschüchtert und verängstigt durch die Verhaftungen und Verhöre, versetzte ihnen diese Situation immer einen brutalen Schock. Und einer der Hauptpunkte dabei war, dass sie sich vor vielen Leuten und besonders vor den SS-Männern ausziehen mussten. Diese völlige Entblößung, die mit Beschimpfungen und anzüglichen Bemerkungen einherging. Diese Nacktheit wurde auch immer wieder eingesetzt: als Strafe beim Appellstehen, als permanente Erniedrigung. Auch das Scheren der Körperhaare beschreiben viele Frauen als eines ihrer schlimmsten Erlebnisse, weil sie das Gefühl hatten, sie würden jetzt vollkommen ihrer Identität und besonders ihrer Identität als Frau beraubt.

Sexualisierte Gewalt existierte als permanente Bedrohung, von der alle Frauen betroffen waren. Die Bedrohung konnte sich zu extremen Gewaltformen steigern, wie der Sexzwangsarbeit, erzwungenen Abtreibungen und medizinischen Versuchen.

Diese vielfältigen Eingriffe in den Körper und die Persönlichkeit übten auf alle Frauen, auch wenn sie nicht selbst Opfer sexueller Gewalt waren, sondern sie „nur“ bei anderen beobachtet hatten, einen tiefen Einfluss auf ihre Haft im Konzentrationslager und auch auf ihr Leben danach aus. Diese Eindrücke sind sie nie wieder los geworden.

AVIVA-Berlin: Sie haben die Sexzwangsarbeit angesprochen. Das ist ein sehr tabuisiertes Thema und besonders stark tabuisiert sind die Häftlingsbordelle in nationalsozialistischen Lagern. Sie wurden auch in den Gedenkstätten verschwiegen. Welchem Zweck sollten diese Bordelle denn dienen?
Brigitte Halbmayr: Das Wissen ist nach wie vor lückenhaft. Der NS-Staat hat ein ganzes Bordellsystem errichtet und die Häftlingsbordelle waren ein Teil davon. Es gibt verschiedene Begründungen oder auch Rationalisierungen, warum es das Häftlingsbordell gab. Von der SS wurden diese Häftlingsbordelle als Teil eines Prämien- oder Anreizsystems in zehn Konzentrationslagern errichtet. Das erste war in Mauthausen 1942. Es gab ein fünfstufiges Prämiensystem, mit dem die Ausbeutung der Arbeitskraft der Häftlinge auf die Spitze getrieben werden sollte. Die höchste Prämienstufe war der Bordellbesuch. Die Möglichkeit dazu hatten nur sehr wenige Häftlinge. Das waren privilegierte Häftlinge in für die SS und die Wirtschaft wichtigen Arbeitskommandos. Zunächst war auch nur deutschen Häftlingen der Bordellbesuch erlaubt, das wurde zwar ausgedehnt, aber immer mit einer rassistischen Konnotation. Wenn ein Häftling jüdisch oder russisch war, dann war ihm der Bordellbesuch strikt untersagt.

Dieses ganz System ist typisch für die Perfidie der SS, zu der es gehörte, die Häftlinge immer wieder zu täuschen, ihnen Versprechungen zu machen. Was auch immer versprochen wurde, war eine Lüge. Im System der Zwangsarbeit war das letzte Ziel die Vernichtung durch Arbeit.

AVIVA-Berlin: Auch den Frauen wurden ja Versprechungen gemacht, um sie für die Zwangsbordelle nun regelrecht anzuwerben. Wenn man sich dazu das Frauenbild des Nationalsozialismus anschaut, das ja gerne auch positiv konnotiert wird – im Moment ist es wieder die Mütterlichkeit - dann sieht man hier etwas völlig anderes: Der idealisierten Frau wird ein projektives Feindbild gegenübergestellt, auf dem sich der Verfolgungswahn austoben kann. Gab es Frauengruppen, die besonders von dieser speziellen – sexuell konnotierten - Verfolgung bedroht waren?
Brigitte Halbmayr: Hier müsste man sich nun intensiver mit den sexual- und erbbiologischen Vorstellungen des NS auseinandersetzen, denn aus diesen wurden die Kriterien für die Verfolgung und auch die Projektionen entwickelt. Es ging ja um eine massive Sexualitätskontrolle und besonders um die Kontrolle weiblicher Sexualität; da war dann den Verdächtigungen und Verfolgungen breitester Raum gegeben. Frauen konnten denunziert werden, weil sie mit Zwangsarbeitern gesprochen hatten oder Fürsorgeämter vermerkten über Frauen in ihren Akten: „treibt sich herum“, „führt ein liederliches Leben, „hat häufig wechselnden Geschlechtsverkehr“.

Wenn diese Spirale sich weiter drehte, dann konnten solche Frauen in Haft genommen werden, meistens als sogenannte „Asoziale“. „Asozial“ war nicht nur eine Beschimpfung, das war ein Verhaftungsgrund. Im Lager – meist war es das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück - trugen diese Frauen den schwarzen Winkel. Das bedeutete für sie in der Regel extrem schlechte Lebensbedingungen, sie kamen z.B. in sehr schwere Arbeitskommandos.

Und genau hier setzt die Perfidie der SS dann wieder an, aus der Gruppe dieser Frauen wurden bevorzugt Sexzwangsarbeiterinnen rekrutiert. Es wurde ihnen unter anderem versprochen, dass sie nach sechs Monaten freikämen oder es wurde ihnen eine leichte Arbeit vorgegaukelt. Und natürlich haben sich Frauen dann auch „freiwillig“ gemeldet.

Hier zeigt sich ganz deutlich die Doppelmoral des nationalsozialistischen Staates: Frauen wurden inhaftiert, weil ihnen ein prostituierendes Verhalten unterstellt wurde und genau diese Frauen wurden dann in den Lagern zur Prostitution ausgewählt.

AVIVA-Berlin: Sie beschreiben in Ihrem Buch die von der SS suggerierte „Freiwilligkeit der Prostitution“ als einen Mythos, der den Frauen sehr geschadet hat, auch in ihrem späteren Leben. Wurde denn überhaupt nicht wahrgenommen, in welchem Gewaltzusammenhang die „freiwillige Meldung“ stattfand?
Brigitte Halbmayr: Diese Vorhaltungen haben zu einer starken Traumatisierung geführt. Die Frauen haben sich sehr zurückgezogen, sie waren in den Lagergemeinschaften nicht integriert. Es gibt vielleicht zwei oder drei Frauen, die öffentlich über die Sexzwangsarbeit geredet haben. Alle anderen schweigen, daher tun wir uns in der Forschung auch so schwer.

Diesen Konnex, also dass die Freiwilligkeit als Vorwurf formuliert wird, gibt es ja nur bei der Sexzwangsarbeit. Das gibt es für kein anderes Kommando. Ganz im Gegenteil: Die Überlebensstrategien, die sich Frauen haben einfallen lassen, um dem Vernichtungswillen der SS etwas entgegen zu setzen, werden geschätzt und geachtet, das waren wichtige Instrumente der Selbstachtung. Das war ganz selbstverständlich, das man versucht hat, von einem schweren Kommando wegzukommen in geschütztere Bereiche, in ein Arbeitskommando mit Dach über dem Kopf. Natürlich hat man sich dafür gemeldet, „freiwillig“, wenn es möglich war. Im Hintergrund stand immer die Frage: Wie kann ich meine Chance zu überleben erhöhen. Bei der Sexzwangsarbeit aber blieb der Versuch, sich eine Überlebenschance zu sichern, immer mit einem Makel behaftet.

AVIVA-Berlin: Die Interwiegsequenzen mit Überlebenden verdeutlichen die Verzweiflung, zu sprechen und doch nicht sagen können, was eigentlich geschehen ist. Ihre ganze Analyse musste sich ja diesem Verstummen aussetzen.
Brigitte Halbmayr: Die Isolation und das Schweigen begannen schon in der Lagersituation. Zunächst wurden die Bordelle ganz nah am Lagertor gebaut, ganz schnell aber wurde das geändert und die Bordellbaracke versteckt. Auch die Sprachregelung „Sonderbauten“ für die Bordelle trug zur Verheimlichung bei.

Die Frauen waren so vom Rest des Lagers völlig isoliert, da hat es keinen Austausch mit anderen Häftlingen gegeben. Sie waren zu dieser einen speziellen Funktion im Lager, und nur diesen von der SS überwachten und kontrollierten Kontakt durften sie haben.

Hier beginnt das Schweigen schon, das die Frauen umhüllt. Und sie selbst waren ja sehr jung, als man sie inhaftierte. Man muss die Zeit bedenken: Über Sexualität hat man nicht gesprochen, schon gar nicht über gewaltvolle Formen von Sexualität. Sie hatten damals die Worte nicht und die Gewalt, die ihnen angetan wurde, hat ihnen jede Möglichkeit des Ausdrucks geraubt.
Jahrzehntelang wurde auch gar nicht nach ihrer Geschichte gefragt und daher fühlten wir uns in der Analyse sehr gefordert, dem genauer nachzugehen, was die Frauen sagen wollten, aber nicht sagen konnten. Denn nun haben wir ja wieder Worte gesucht für ihre Erfahrungen. Das war sehr schwierig. Wir wollten den Frauen ja auch gerecht werden, wollten sie nicht überinterpretieren oder ihnen etwas in den Mund legen.

AVIVA-Berlin: Dieses Tabu, über das wir die ganze Zeit versuchen zu sprechen, wirkt ja auch in einem selbst. Ich muss sagen, als ich zum ersten Mal den Begriff Häftlingsbordelle gelesen habe, war ich völlig vor den Kopf gestoßen. Wenn man an Elfriede Jelinek anknüpft: Radieren wir dann nicht dauernd wieder aus?
Brigitte Halbmayr: Die Tabuisierung fand und findet natürlich auf vielen Ebenen satt. Es ist das Thema selbst: Sexualität und Gewalt sind immer von einem Schweigen umgeben. Die Frauen können nicht darüber sprechen; sie waren in den Lagern stigmatisiert und blieben es auch danach.

Bei den Politischen war der Bordellbesuch verpönt und daher wollten politische Häftlinge nicht darüber sprechen. Es gab von männlicher Seite auch deswegen kein Sprechen, weil viele Männer die Bordelle nicht als sexuelle Gewalt, an der sie beteiligt waren, wahrgenommen haben.

Eine Tabuisierung ist aber auch die Art und Weise, in der gesprochen wurde und wird. Das gilt auch auf wissenschaftlicher Ebene: Auch hier gab es lange Zeit eine herablassende, diskriminierende Sprache, auch hier wurde der Mythos der SS, die Frauen hätten sich freiwillig für die Bordelle gemeldet und dann ein ganz angenehmes Leben geführt, teilweise übernommen.

Die sehr gute Ausstellung zur Sexzwangsarbeit in Ravensbrück hat das Thema jetzt einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht, aber es gab dann plötzlich auch einen medialen Hype, der keineswegs frei von Sensationsgier und Voyeurismus war.

Wir haben das auch bei unserem Buch erlebt. Wir haben ja versucht die unterschiedlichen Erfahrungen von Frauen mit sexualisierter Gewalt darzustellen, aber das mediale Interesse galt beinahe ausschließlich der Sexzwangsarbeit.
Und hier kam dann immer wieder die Frage: „Können Sie uns denn jetzt eine Zeitzeugin vermitteln?“ Das haben wir natürlich abgelehnt und dann war auch das Interesse weg.

Helga Amesberger/Katrin Auer/Brigitte Halbmayr (Hg.)
Sexualisierte Gewalt. Weibliche Erfahrungen in NS-Konzentrationslagern.
Mit einem Vorwort von Elfriede Jelinek

Mandelbaum Verlag, erschienen April 2007 (3. Auflage)
Broschiert, 364 Seiten
ISBN: 978385476-219-5
19,90 Euro

Weiterlesen:
Brigitte Halbmayr/Helga Amesberger: Vom Leben und Überleben - Wege nach Ravensbrück. Das Frauenkonzentrationslager in der Erinnerung.
Helga Amesberger, Brigitte Halbmayr (Hrsg.): Rechtsextreme Parteien - eine mögliche Heimat für Frauen?



Weitere Infos:
www.wegenachravensbrueck.net/
Publikationen von Brigitte Halbmayr


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Beitrag vom 19.09.2007

AVIVA-Redaktion