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Beitrag vom 29.06.2006
Iranischer Neorealismus
Karin Effing
Jafar Panahis einfühlsamer Film "Offside" - im Stil einer Dokumentation - zeigt weibliche Fußballfans im Iran, die mit allen nur erdenklichen Tricks versuchen, ins verbotene Stadion zu gelangen
"Vor acht Jahren schlug der Iran Australien und qualifizierte sich für die Weltmeisterschaft. Als die Spieler zurück nach Hause kamen, wurden sie von der Bevölkerung begeistert empfangen. Für Frauen ist im Iran der Besuch von Sportarenen verboten. Diesmal jedoch wurde ihnen erlaubt, die Rückkehr der Spieler zu feiern. Fünftausend Frauen kamen und betraten das Stadion - was zu vielen Diskussionen führte, warum Frauen überhaupt ausgeschlossen werden. Ich erinnere mich, damals den Artikel eines Sportjournalisten gelesen zu haben, der sich damit befasste, dass schon im alten Griechenland Frauen mit diesem Problem zu kämpfen hatten. 500 v. Chr. mussten Frauen sich als Männer verkleiden, um ihre Söhne, die Sporthelden waren, anfeuern zu können. Ob das nun stimmt oder nicht, es brachte mich auf erste Ideen zu diesem Projekt."
Jafar Panahi
Sechs iranische Mädchen versuchen auf sechs Wegen und in sechs verschiedenen und einfallsreichen Tarnungen ins Fußballstadion zu gelangen, um das entscheidende Spiel Iran gegen Bahrain im Juni 2005 zu sehen. Trickreich müssen sie sein, denn aufgrund ihres Geschlechts ist es ihnen verboten, das Fußballstadion zu betreten. Begründung: das Fluchen der Männer im Stadion sei nichts für Frauen.
Das filmische Meisterwerk Offside in der Regie des iranischen Regisseurs Jafar Panahi kommt wie ein Dokumentarfilm daher. Das zeigt sich auch im Versuch, die Einheit der Zeit einzuhalten und im Verzicht auf eine Allegorisierung und Überhöhung der Figuren sowie der Geschehnisse. Panahi beschränkt sich viel mehr auf die Beobachtung der Beteiligten. Auf ihre Alltäglichkeit, auf ihre menschlichen Schwächen und Eigenheiten.
Anfangs begleiten wir eines der Mädchen auf ihrem Weg zum Stadion in einem Bus, der die lauten und in Vorfreude schwelgenden Fußballfans transportiert. Chaotisch und lebensfroh droht das Gefährt sein Ziel wegen Auseinandersetzungen zwischen den Männern nicht zu erreichen, denn dem Busfahrer wird es zuviel und er verlässt seinen Arbeitsplatz. Wird dann jedoch von einer lautstarken Fangemeinde zum Weiterfahren überredet. Nur einer passt nicht so richtig ins Geschehen. Oder ist das gar kein Junge, sondern ein Mädchen?
Tatsächlich ist es einer der weiblichen Fans, die sich als Mann verkleidet hat, um vielleicht auf diesem Weg in Stadion zu gelangen. Sie wird jedoch "entlarvt" und am Rande des Stadions, außerhalb des Sichtfeldes aufs Spiel, in eine Art Gehege mit anderen Mädchen gesteckt. Nur die dilettantischen Kommentare eines der Wärter ermöglicht es ihnen, das Geschehen auf dem Rasen zu verfolgen.
Höhepunkte des herausragenden Filmes sind die Interaktionen zwischen den Gefangenen und ihren Bewachern. Warum sie nicht ins Stadion dürfen, fragen die Mädchen diese. Und die Bewacher haben keine wirklichen Antworten parat, auch weil sie mit ihren eigenen Problemen beschäftigt sind. Kein Wunder, denn sie sind kleine Leute, die sich ihre Rolle nicht ausgesucht haben.
Die Stärke des Films ist es, diese ganz normalen Menschen zu zeigen. Junge Frauen, die auf ihre Weise Diskriminierung untergraben - nicht weil sie Heldinnen sein wollen, sondern einfach, weil sie ein Fußballspiel sehen wollen. Und Vollstrecker eines ungerechten Systems, die sich weder dieses System, noch dessen Regeln ausgedacht und ausgesucht haben und wie ganz normale Menschen, mit Widerstand oder Infragestellung überfordert sind, ohne jedoch dabei unmenschlich oder brutal zu agieren.
Offside ist auch ein Film über die Ideen von Männlichkeit, die als eine Art Rowdytum definiert wird - oder doch wenigstens als Neigung dazu. Merkwürdigerweise ohne dass diese wenig schmeichelhafte Definition in Frage gestellt wird oder auf Ablehnung stößt. Als wäre Männlichkeit eine Art angeborene Unfähigkeit, sich sozial und gesittet zu benehmen.
Offside wurde bei den 56. Internationalen Filmfestspielen Berlin mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet.
Regisseur:
Jafar Panahi wurde 1960 in Mianeh, Iran, geboren. Er gilt als einer der wichtigsten unabhängigen Filmemacher seines Landes, sein Stil wird oft als iranischer Neorealismus beschrieben. Er studierte in den 1980er Jahren in Teheran Film- und Fernsehregie. Nach einigen Fernseharbeiten und Kurzfilmen war er Assistent des wichtigen iranischen Regisseurs Abbas Kiarostami. Schon sein Debütfilm Der weiße Ballon (The white Balloon) wurde auf dem Internationalen Filmfestspielen von Cannes 1995 ausgezeichnet. Seine weiteren Filme Der Spiegel (The mirror) und Der Kreis (The circle) wurden ebenfalls auf bedeutenden Festivals ausgezeichnet
AVIVA-Tipp: Offside von Jafar Panahi startet in Deutschland gerade zur rechten Zeit. Mit steigender Fußballbegeisterung in der Stadt und im ganzen Land bietet das Kino mit diesem großartigen, warmen und humorvollen Film sowohl den Fans als auch den AbstinentInnen (und HerrenfußballhasserInnen) ein herausragendes cineastisches Erlebnis. Eindrücklich, unterhaltend, gewitzt und von tiefer Humanität geprägt gehört dieser Film zur Riege der Besten.
Offside
Iran 2006, 88 min.
Produktion, Schnitt, Regie: Jafar Panahi
Buch: Jafar Panahi, Shadmehr Rastin
DarstellerInnen: Sima Mobarak Shahi, Safar Samandar, Shayesteh Irani, M. Kheyrabadi, Ida Sadeghi, Golnaz Farmani, Mahnaz Zabihi, Nazanin Sedighzadeh
Kamera: Mahmood Kalari
Verleih: Movienet Film
Kinostart: 29.06.06