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Beitrag vom 03.04.2006
Geh und Lebe
Tatjana Zilg
Der 9jährige Schlomo wird aus dem von Hungersnöten und Bürgerkriegen zerrütteten Äthiopien vom israelischen Geheimdienst nach Tel Aviv geholt. Seine christliche Mutter gibt ihn als Juden aus
Mitte der 80er Jahre führte der israelische Geheimdienst auf Initiative der USA und Israels die "Operation Moses" durch. Die Falashas und mit ihnen viele Nicht-JüdInnen waren hunderte von Kilometern von Äthiopien in den Sudan geflüchtet.
Auf dem entbehrungsreichen und gefährlichen Weg starben viele an Hunger, Erschöpfung, Wassermangel, Gewalt und sich rasch ausbreitenden Krankheiten. Wer die Reise überstand, wurde in einer spektakulären Aktion nach Israel ausgeflogen. Israel nahm jedoch nur JüdInnen auf, Nicht-JüdInnen wurden zurückgeschickt.
Eine äthiopische Mutter (Meskie Shibru Sivan) sieht für ihren Sohn eine Chance zu überleben, als in einem Flüchtlingslager das Kind einer jüdischen Frau stirbt. Schweren Herzens überzeugt sie die Mutter des verstorbenen Kindes (Mimi Abonesh Kebede), den verwirrten Jungen an die Hand zu nehmen und nach Israel zu bringen, damit er dort die Möglichkeit haben wird, ohne Hungersnöte und ohne Angst vor alltäglicher Gewalt aufzuwachsen. Sie selbst muss zurückbleiben, denn für Nicht-JüdInnen gibt es keinen Ausweg. Sie müssen im Lager verharren, wo sie notdürftig von internationalen Hilfsorganisationen versorgt werden.
Der kleine Junge (Moshe Agazai) wird fortan von allen Schlomo genannt.
In Israel muss er sich den strengen Fragen der Beamten stellen, die herauszufinden versuchen, ob seine jüdische Identität echt ist. Wenigstens wird er in der ersten Zeit von Hana, der äthiopischen Ersatzmutter, unterstützt. Als diese an einer Virenkrankheit stirbt, ist er allein im fremden Land, wo die neuen Eindrücke beängstigend auf ihn einstürzen. Plötzlich gibt es genug zu Essen und mit dem Wasser wird viel verschwenderischer umgegangen als in seiner Heimat. Die Menschen begegnen ihm weiterhin misstrauisch. Zu seinem Schutz hat ihn Hana auf dem Sterbebett eingeschärft, nie jemanden von seiner wahren Herkunft zu erzählen. Der Gewissenskonflikt und die Sorge um seine zurückgelassene Mutter zerreißen ihn innerlich. Im Schulinternat rebelliert er mit Nahrungsverweigerung und aggressiven Verhalten gegen die anderen Kinder. Die Erwachsenen reagieren zunächst eher mit Unverständnis. Der Schulpsychologe setzt sich für eine Lösung ein. Er vermittelt den überraschten Schlomo in eine Adoptivfamilie.
Das wichtigste, was das Ehepaar Yoram (Roschdy Zem) und Yaël (Yaël Abecassis) ihrem Familienzuwachs am ersten Tag mitzuteilen haben, ist, dass sie politisch links sind und ihren Glauben nicht aktiv praktizieren. Schlomo ist von dem erneuten Umgebungswechsel so überwältigt, dass er zunächst ganz andere Sorgen hat. Nach einiger Zeit gelingt es der vierköpfigen Familie, den sensiblen Jungen liebevoll und ohne vorschnelle Strenge oder Zwang in ihre Mitte aufzunehmen. Endlich beginnt er, sich auf das neue Land einzulassen. Besonders seine Adoptivschwester (Raymonde Abecassis) freut sich darüber sehr. Sie fühlt sich manchmal im Schatten ihres leiblichen Bruders und spürt eine Zuneigung zu dem feinsinnigen Schlomo, der sich auch nicht immer mit dem Männlichkeitsgebaren des Vaters zufrieden geben wird. Mit der Sicherheit eines neuen Zuhauses begegnet Schlomo der Fremdenfeindlichkeit und dem Misstrauen, womit er als Schwarzer oft konfrontiert wird. Sein sorgsam gehütetes Geheimnis lässt ihn nicht los, aber er setzt sich aktiv mit seiner Umwelt auseinander und lässt sich auf den jüdischen Glauben ein. Um einen Platz in der Gemeinde zu erobern und um seine Schulkameradin Sarah (Roni Hadar) zu beeindrucken, nimmt er als Jugendlicher (Moshe Abebe) an einem Diskurswettbewerb über den jüdischen Glauben teil. In Gedanken bewahrt er aber immer die Erinnerung an seine leibliche Mutter und beginnt, ihr Briefe zu senden. Nach einigen Selbstwertkrisen entscheidet sich Schlomo (Sirak M. Sabahat), Medizin zu studieren, um in den Entwicklungsländern Afrikas aktiv helfen zu können.
Der Regisseur Radu Mihaileanu ("Zug des Lebens") widmet sich in "Va, Vis Et Deviens" (Orginaltitel) erneut einem politisch-historischen Thema, in dem sich die schweren Fragen von Flucht und Identitätsverlust spiegeln. Ihm gelingt es dabei, mit einer feinfühlig und präzise erzählten Geschichte und facettenreichen, sympathischen Charakteren die ZuschauerInnen über fast zweieinhalb Stunden zu fesseln und gekonnt zu unterhalten, ohne je den ernsten Hintergrund des Themas vergessen zu lassen. Die Kindheit, die Jugend und das Erwachsenwerden seines kleinen Helden werden von drei Schauspielern verkörpert, die perfekt in ihrer jeweiligen Rolle aufgehen. Eine sehr hilfreiche Unterstützung für den Regisseur war hierbei der Darsteller des erwachsenen Schlomo, Sirak M. Sabahat. Er emigrierte im Alter von elf Jahren im Zuge der "Operation Moses" nach Israel, brachte seine Lebenserfahrung mit ein und half beim Anleiten der beiden jüngeren Darsteller.
Der Film erhielt so eine besondere Intensität und eine hohe Glaubwürdigkeit.
AVIVA-Tipp: Ein sehr vielschichtiger Film, der international bereits fünfzehn Festivalpreise, davon acht Publikumspreise, erhielt. Weltpremiere war auf der Berlinale 2005, wo er den Panorama-Publikumspreis erhielt. Die Spur von Schlomo zu verfolgen, der manchmal so gar nicht mutig wirkt und doch immer wieder dem Schicksal die Stirn bietet und sich zu einem selbstbewussten und lebensfreudigen jungen Mann entwickelt, der verantwortungsbewusst versucht, seinen Beitrag gegen Armut und Zerstörung zu leisten, berührt die Herzen zutiefst und regt gleichzeitig an zum Nachdenken über globale Machtverhältnisse.
Lesen Sie auch unser Interview mit dem Regisseur Radu Mihaileanu.
Gehe und Lebe
Originaltitel: Va, vis et deviens
Frankreich, Israel 2004, 144 Min., FSK ab 12 Jahren
Regie und Drehbuch: Radu Mihaileanu
DarstellerInnen: Yaël Abecassis, Roschdy Zem, Sirak M. Sabahat, Moshe Agazai, Moshe Abebe, Meskie Shibru Sivan, Mimi Abonesh Kebede, Raymonde Abecassis, Yitzhak Edgar, Rami Danon, Roni Hadar
Verleih: www.delphi-film.de
Kinostart: 06.04.2006-04-03
Die Website zum Film: www.geh-und-lebe.de