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Beitrag vom 11.06.2004
Station Agent
Anne Winkel
Das Wegerecht der Züge und das Recht eines kleinen Mannes sein Glück zu finden. Ein Film über die Kraft der Freundschaft von Tom McCarthy. Mit Peter Dinklage, Patricia Clarkson. Kinostart: 10.06.04
Eine Totale zeigt den Kopf eines Zigarette rauchenden Mannes. Die Kamera fährt zurück und zu sehen ist ein kleinwüchsiger Mann im Anzug: Finbar McBride (Peter Dinklage). Fin beobachtet vom Dach eines Hochhauses in Hoboken die vorbeifahrenden Züge. Seiner Leidenschaft für die großen Züge kann er allerdings nur im privaten Raum nachgehen, beruflich muss sich Fin mit den kleinen Zügen zufrieden geben: Der kontaktarme Mann arbeitet in einem Modelleisenbahnladen.
Auf seinem täglichen Nachhauseweg wird Fin von Kindern gehänselt, die größer sind als er. Im Supermarkt starren ihn die Erwachsenen an. Als Fins einziger Freund plötzlich stirbt, nimmt er dessen Erbe an und macht sich auf den Weg zu einem Bahnwärterhäuschen nach Neufundland. In seinem neuen Zuhause angekommen, macht Fin schnell die Bekanntschaft des Imbisswagenverkäufers Joe Oramas (Bobby Cannavable) und der etwas ungeschickten Autofahrerin Olivia Harris (Patricia Clarkson). Sowohl Joe als auch Olivia bemühen sich um die Freundschaft des verschlossenen Fin. Joe ist Südamerikaner und sucht verzweifelt Kontakte in der Einöde von Neufundland. Olivia dagegen lebte bisher zurückgezogen. Zwei Jahre zuvor hat die Malerin von traurigen Frauenportraits ihren Sohn verloren und daraufhin ihre Heimatstadt Princeton verlassen, weil sie es nicht mehr ertragen konnte, als "Mutter des toten Kindes" angestarrt zu werden.
Ungewollt verbindet Fin Menschen miteinander, die vorher kaum ein Wort wechselten. Die verschlossene Olivia erzählt Fin von ihrem Leid, sie sagt plötzlich mehr als "Hallo" und "Tschüß" zu Joe und lässt sich von Cloe, einem kleinen schwarzen Mädchen (Raven Goodwin), eine "Nagelsammlung" zeigen, von der sie nicht einmal weiß, was es ist. Während Olivia Telefone hasst und deshalb Handy und Nachrichten auf dem Anrufbeantworter ignoriert, hat Joe ein ständiges (telefonisches) Kommunikationsbedürfnis.
In leisen Tönen erzählt der Film - ganz ohne Mitleid - ein Stück aus dem Leben des 1,35m großen Finbar Mc Bride. Es ist die Geschichte eines Mannes, der sich jahrelang in seine Welt der Züge zurückgezogen hat und menschliche Kontakte höflich, aber bestimmt abzuwehren wusste. "Station Agent" versteht es mit kleinsten Mitteln eine starke emotionale Wirkung zu erzielen. Tiefe Gefühle und sich entwickelnde Freundschaften werden vor allem in den Sequenzen ohne Worte spürbar. Wenn Fin, Olivia und Joe hintereinander das Wegerecht der Bahn abschreiten und Beef Jerky aus der Tüte essen oder nebeneinander in Schaukelstühlen sitzen. Rührend ist auch die etwas pummelige Cleo, die ihrem Zugkenner-Idol über die Gleise folgt.
Neben den drei ProtagonistInnen stehen Züge im Mittelpunkt von "Station Agent". Fins Begeisterung für dieses Transportmittel überträgt sich auch auf seine Freunde. Der Zug steht für die Reise, Sehnsucht nach der Ferne, und dem Traum eines anderen Lebens. Der Zug stellt aber auch eine Nähe zwischen Menschen her, die vor Erfindung der Bahn zu weit voneinander entfernt lebten um sich treffen zu können. Eine der ersten Funktionen der Eisenbahn war die Zustellung von Briefen. Das Eisenbahndepot war zugleich Friseursalon, wie Fin bei einem Vortrag in Cloes Schulklasse erklärt. Auch für Fin bringen der neue Wohnsitz und seine Leidenschaft für Züge plötzlich Nähe zu Menschen. In seinem Bahnwärterhäuschen vertraut ihm Olivia an, dass ihr Sohn tödlich verunglückte und die Bibliothekarin Emily (Michelle Williams), dass sie schwanger ist.
"Station Agent" wurde ausgezeichnet u. a. mit dem großen Preis der Jury "San Sebastian 2003", als bester Film (Publikumspreis), beste Darstellerin (Patricia Clarkson) und bestes Drehbuch (Tom McCarthy) beim "Sundance Filmfestival 2003", mit dem Spezialpreis der Jury "Marrakesch 2003", sowie den "IFP Independent Spirit Awards".
AVIVA-Tipp: "Station Agent" verbirgt im Kleinen, was großes Kino ausmacht: Der Film ist einerseits komisch, rührt aber andererseits zu Tränen. Aus dem Kinosaal wanken glücklich-melancholische ZuschauerInnen. Die Welt scheint sich unmittelbar nach "Station Agent" ein wenig langsamer zu drehen, ist weniger hektisch und laut. Es bleibt die Botschaft: Glücklich wir man auch ohne Perfektion. Man braucht nur Menschen, die diese Imperfektion zu schätzen wissen und hinter die Fassade blicken.
Zur Schauspielerin Patricia Clarkson:
Patricia Clarkson, geboren 1955, stand bereits als Teenager auf der Bühne des Schultheaters. Sie studierte zwei Jahre Sprachtherapie bevor sie ein Studium der Theaterkunst in N.Y. absolvierte und mit summa cum laude abschloss. Einen Master of Fine Arts erwarb sie an der Yale School of Drama. On und off-Broadway in New Yorg beginnt Clarkson ihre professionelle Schauspielkarriere. Ihr Kinodebüt gibt sie in "Die Unbestechlichen" (Brian de Palma, 1987) an der Seite von Kevin Costner.
Es folgten Rollen in "The Green Mile" (Frank Darabont, 1999), "Dem Himmel so fern" (Todd Haynes, 2002), sowie in den Indepentent-Filmen "Dogville" (Lars von Trier, 2003) und "Pieces of April" (Peter Hedges, 2003).
Station Agent
USA 2003, Länge: 88 Minuten
Buch und Regie: Tom McCarthy
DarstellerInnen: Peter Dinklage, Patricia Clarkson, Bobby Cannavale, Michelle Williams, Raven Goodwin, Lynn Cohen
Kinostart: 10. Juni 2004
Deutschland (FSK): Keine Altersbeschränkung
www.stationagent.de