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Beitrag vom 05.05.2009
Tangerine
Tatjana Zilg
Die Regisseurin Irene von Alberti gibt mit ihrem Langfilm-Debut einen mehrschichtigen Einblick in den Alltag der marokkanischen Hafenstadt Tanger zwischen Tradition und Moderne. Im Mittelpunkt …
… der Handlung stehen die beiden jungen Deutschen Pia und Tom sowie die Marokkanerin Amira, die versucht, aus dem von ihrer Familie vorgeschriebenen Lebensweg auszubrechen.
Die Begegnung der drei jungen Leute Anfang Zwanzig bleibt nicht die gesamte Zeit der Fokus des Filmes. Irene von Alberti nutzt verschiedene Ebenen, um die ZuschauerInnen hinter die märchenhafte Kulisse des beliebten Reiseziels blicken zu lassen. Der Handlungsfaden bindet viele dokumentarische Elemente ein, die ermöglichen, sich ein komplexes Bild über das Leben in der islamisch geprägten Stadt zu machen.
Eine dieser Ebenen erlaubt den KinogängerInnen einen kurzweiligen Ausflug in die Musikethnologie. Das Pärchen Pia (Nora von Waldstätten) und Tom (Alexander Scheer) verbringt gemeinsam mit einigen Freunden den Sommer in Tanger, um auf den Pfaden der Rolling Stones die lokale Musikszene zu erforschen. Sehr zum Erstaunen der gleichaltrigen Einheimischen, denn ihr Hauptinteresse gilt der traditionellen Musik. Eine Zeit lang bleibt die Suche erfolglos, doch dann gelingt es der Clique, die selbst als Rockband aktiv ist, mit Hilfe von einigen Tipps ihrer neuen FreundInnen auf lokale Musik-Profis zu treffen. In spontanen Jam-Sessions wird der Zauber der nordafrikanischen Instrumente und Volksweisen erlebbar, wobei leider wenig Hintergrund-Erklärungen gegeben werden, so dass es nicht ganz verständlich wird, warum Tom hier die Wurzeln des Rock´n Roll vermutet.
Die eigentliche Hauptperson des Filmes ist Amira (Sabrina Ouazani).
Mit viel Energie setzt sie sich gegen konventionelle Rollenmuster zur Wehr. Um einer Zwangsverheiratung zu entkommen, schließt sie sich einer Gruppe von Frauen an, die in einer Wohngemeinschaft zusammenleben und ihr Überleben durch Prostitution sichern. Aus soziokulturellen Gründen stehen den WG-Bewohnerinnen keine anderen Möglichkeiten offen, ein Leben nach eigenen Vorstellungen zu führen. Da die Aufstiegschancen in Marokko eher gering sind und alleinstehende Frauen ein schlechtes Ansehen haben, bleiben sie in ihren Träumen in traditionellen Rollenmustern gefangen: Eine Heirat mit einem reichen Mann, vorzugsweise aus Europa, wird zur ersehnten Lösung aus der jetzigen Situation. Das Dilemma wird besonders nachvollziehbar am Schicksal der kleinen Tochter von Neshua (Naima Bouzid). Nach einer unehelichen Geburt wurde die gegenwärtig Fünfundzwanzigjährige von der Familie des Kindesvater nicht als Schwiegertochter akzeptiert. Da die Identität offiziell als ungeklärt gilt, erhält sie von den Behörden keinen Pass für ihre Tochter, wodurch diese nicht zur Schule gehen kann und später keine anderen Chancen als ihre Mutter haben wird.
Amira übernimmt die Einstellung, dass ein europäischer Ehemann den Weg zu einer besseren Zukunft darstellt, obwohl ihr innigster Wunsch eine Ausbildung als Tänzerin ist. Ihr großes Talent, sich zu Musik zu bewegen, hilft ihr zunächst, Pia und Tom kennenzulernen, die sie in einer Disco auf der Tanzfläche beobachten und fasziniert von ihr sind. Es entwickelt sich schnell eine Freundschaft, die durch den Beziehungskonflikt der beiden jungen Deutschen bald kräftig durcheinander gewirbelt wird. Pia vertraut Amira an, dass sie zur Zeit eine Beziehungspause eingelegt haben, da sie sich ihrer Gefühle nicht sicher sei. Solche emotionalen Spielereien sind der Marokkanerin fremd. Sie sieht nun den Weg frei, Tom als Partner zu gewinnen, der sie später mit nach Deutschland nehmen soll. Der hedonistische Star-in-spe wiederum lässt sich völlig unbefangen auf den Kontakt ein. Vermutlich kann er sich gar nicht vorstellen, welche hohe Erwartungen Amira mit der sich rasch entwickelnden Affäre verknüpft. Als mehr und mehr materielle Forderungen kommen, zieht er sich einfach wieder zurück, und auch Pia ist gekränkt, dass Amira Toms Aufmerksamkeit so sehr auf sich gezogen hat. Eine plötzliche Razzia in der Disco lässt den Kontakt abreißen. Durch einen Zeitsprung erfolgt eine spätere Auflösung der weiteren Geschehnisse, und auch die Beziehungsdynamik zwischen Pia, Amira und Tom erhält im Rückblick mehr Klarheit.
Irene von Alberti verbindet schon seit fünfzehn Jahren eine filmische Liebe mit Marokko. Sie war in viele Spiel- und Dokumentarfilme über das Land, seine Kultur und seine Widersprüche involviert. Während der Dreharbeiten zu einer Doku stieß sie auf das gesellschaftlich tabuisierte Thema der Prostitution, die in Marokko wie in den meisten islamischen Ländern bei schwerer Strafe verboten ist, in Tanger aber im gewissen Rahmen toleriert wird. Oft können junge Männer aus Geldnot nicht heiraten. Da außereheliche Beziehungen streng verfolgt werden, floriert die Prostitution. Frauen suchen im Rotlicht-Milieu eine Flucht vor den zwei traditionell für sie vorgesehenen Existenzformen Ehefrau und Dienstmädchen, in denen sie häufig körperlicher Gewalt ausgesetzt sind. In diesem Kontext berührt die Szene besonders, in der Amira Tom eine Identität vorflunkert, die in der Oberschicht angesiedelt ist. Als Tochter gut verdienender Eltern studiere sie und genieße das Leben. Dabei ließen sie ihre Eltern in Wirklichkeit bei ihrem Onkel als Haushaltshilfe zurück, als sie nach Europa auswanderten.
AVIVA-Tipp: Die Mischung aus fiktiven und dokumentarischen Elementen verleiht "Tangerine" einen besonderen Charme, fordert aber des Öfteren ein rasches Umdenken von den KinogängerInnen ein. Manches Mal wird die Handlung durch den Wechsel der Ebene gerade dann unterbrochen, wenn man eigentlich gerne mehr erfahren würde. Anderseits erlaubt die bei den dokumentarischen Anteilen zurückhaltend beobachtende Kamera ein genaues Hinschauen auch auf die Details, die beim Reisen oft übersehen und von den beiden ProtagonistInnen Tom und Pia nicht wahrgenommen werden. So ergibt sich wie in einem Mosaik nach und nach ein sinnlicher wie auch soziologisch äußerst interessanter Gesamteindruck des orientalischen Landes im Aufbruch in das neue Jahrtausend.
Tangerine
Deutschland, Marokko 2008
Regie und Buch: Irene von Alberti
Kamera: Birgit Möller
DarstellerInnen: Sabrina Ouazani, Nora von Waldstätten, Alexander Scheer, Naima Bouzid, Nohad Sabri, Said Bey
Verleih: Filmgalerie 451
Filmlänge: 95 Minuten
Kinostart: 14.05.2009
Der Film im Netz:
www.filmgalerie451.de/film/tangerine