AVIVA-Berlin >
Kultur
AVIVA-BERLIN.de im November 2024 -
Beitrag vom 18.02.2009
59. Berlinale - Die PreisträgerInnen
Tatjana Zilg
Den Goldenen Bären für den Besten Film erhielt "La Teta Asustada" von der Regisseurin Claudia Llosa. Mit einer metapherreichen, magisch berührenden Bildsprache beschreibt der Film den Weg ...
... einer jungen Peruanerin zur inneren Selbstbefreiung. Fausta leidet an einer Krankheit, deren Ursache dem Volksglauben nach in der Frühkindheit liegt, wenn der Säugling die Milch einer Mutter trinkt, die durch eine oder mehrere Vergewaltigungen traumatisiert wurde.
Es war das erste Mal, dass ein Film aus Peru am Wettbewerb der Berlinale teilnahm. Lateinamerika hat dagegen schon lange die Aufmerksamkeit der internationalen Filmwirtschaft auf sich gezogen. Bereits im letzten Jahr gelangte mit "Tropa De Elite" (Brasilien) ein Film aus dem südlichen Kontinent auf den ersten Platz im Rennen um die Berliner Film-Bären.
Beide Filme sind äußerst unterschiedlich. In "La Teta Asustada" steht die Gewalt - im Gegensatz zu dem Polizei-Thriller - nicht deutlich erkennbar im Vordergrund. Im Alltag von Fausta zeigen sich die Auswirkungen der Gewalt während des Guerilla-Krieges, der bereits seit über einem Jahrzehnt vorbei ist, im auf den ersten Blick Unspektakulären.
Als ihre Mutter an vorzeitiger Altersschwäche stirbt, muss sich Fausta von vertrauten Verhaltensmustern lösen und lernen, für sich selbst wichtige Entscheidungen zu treffen und sich gegen Ausnutzung zu wehren. Der Film spielt im ärmeren Milieu einer peruanischen Großstadt, in der sie mit ihrer Großfamilie in räumlich engen Verhältnissen lebt. Einen wichtigen Halt findet sie in ihrer Musikalität. In Quechua, der Sprache der Indios, singt sie eindringlich schöne Weisen, in deren Texten sie sich mit den Grauen der Vergangenheit auseinandersetzt.
Ganz ohne Ãœbersetzung durchdringt die Sprachmelodie des Quechua das verschneite Berlin
Dies sorgte während der Gala zur Preisvergabe zu einem Höhepunkt des babylonischen Sprachgewirrs, das für ein Festival mit einem Programm mit Filmen aus aller Welt fast Qualitätsmerkmal ist. Zwar konnte verstärkt der Trend zum Englischen als Filmsprache beobachtet werden, was auch im Zusammenhang mit den vielen länderübergreifenden Co-Produktionen steht, aber ÜbersetzerInnen und gute Untertitel waren dennoch oft Notwendigkeit.
Magaly Solier, die Darstellerin der Fausta, bedankte sich in einer emotionalen, spanischen Rede für die Auszeichnung der gemeinsamen Leistungen des Filmteams und beendete sie in Quechua, für das keine Übersetzung möglich war. Dafür belohnte sie wie schon auf der Pressekonferenz die Geduld aller, indem sie ein Quechua-Lied live mit ihrer zerbrechlich und zugleich kraftvollen Stimme sang.
Somit war dieses Jahr die Musik wieder zum wichtigen Bestandteil geworden, auch wenn der Polit-Thriller "The International" und kein Konzertfilm das Festival eröffnete, und der Anteil der reinen Musikfilme am Gesamtprogramm geringer ausfiel.
Das Politische fand wieder mehr Gewicht. Die Auseinandersetzung des Individuums mit den Lebensbedingungen in einer globalisierten Welt war das Grundmotiv vieler Filme. Migration und Flucht bekamen anhand der Darstellung von Einzelschicksalen facettenreiche Gesichter.
Das Spektrum an Filminhalten war insgesamt weitgefächert. Der internationalen Jury unter dem Vorsitz von Tilda Swinton scheint dieses Jahr die Entscheidung besonders schwer gefallen zu sein. Gleich zweimal wurde der Silberne Bär vergeben.
Lieben oder Nicht-Lieben am europäischen Mittelmeer und am anderen Ende des Atlantiks
Zwei Filme über die Suche nach einer Liebe, die mehr ist als nur Fassade und nicht im Oberflächlichen verbleibt, teilen sich den Großen Preis der Jury: "Gigante", das Debut von Adrián Biniez aus Uruguay, einem bisher in den Film-Atlanten eher unscheinbaren lateinamerikanischen Land, und der deutsche Film "Alle anderen" von Maren Ade, die schon mit ihrem Debut "Der Wald vor lauter Bäumen" die KritikerInnen begeisterte. Sie inszenierte mit ihrem Zweitling ein modernes Beziehungsdrama, das auf Sardinien spielt, wo ein junges Paar im Ferienhaus der Eltern des Mannes den Urlaub verbringt. Der Film erhält seine Kraft vorrangig durch die Dialoge und das ausdrucksstarke Spiel von Lars Eidinger und Birgit Minichmayr, beide versierte TheaterschauspielerInnen. Birgit Minichmayr, seit einiger Zeit auch an der Berliner Volksbühne zu erleben und seit kurzem als Sängerin im Duett mit Campino, überzeugte die Jury mit ihrer schauspielerischen Leistung so sehr, dass sie zudem den Silbernen Bären für die Beste Darstellerin erhielt.
Die Filmausstatterin Silke Fischer nahm mit dem Szenenbild von "Alle Anderen" die Femina-Jury für ihre Arbeit ein und erhielt den mit 3.000 Euro dotierten Preis.
Adrián Biniez galt mit seinem Film "Gigante" schon im Vorfeld als aussichtsreicher Kandidat für die Bären. Die unaufdringliche Komödie beobachtet, wie sich in einem Supermarkt ein Sicherheitsmann in eine Putzfrau verliebt, die er auf den Überwachungsmonitoren erspäht hat. Zwar bekam er nicht den ersten Preis, aber dafür gleich drei Preise von unterschiedlichen Jurys: Neben dem Silbernen Bären den Alfred-Bauer-Preis für einen Spielfilm, der neue Perspektiven der Filmkunst eröffnet, und den Preis für den Besten Erstlingsfilm, der mit 50.000 Euro dotiert ist.
Der Alfred-Bauer-Preis wurde dieses Jahr ebenfalls doppelt vergeben: Auch der 82 jährige polnische Regisseur Andrzej Wajda überzeugte die Jury mit "Tatarak" ("Der Kalmus"), eine sensible Annäherung an die Vergänglichkeit des Lebens mit Krystyna Janda in der Hauptrolle.
Für den Silbernen Bären für die Beste Darstellerin gab es einige weitere aussichtsreiche KandidatInnen (Kerry Fox und Anamaria Marinca in "Sturm", Regie Hans-Christian Schmid, Renée Zellweger in "My One And Only", Regie Richard Loncraine), so dass es doch ein wenig überraschte, dass er innerhalb von fünf Jahren zum vierten Mal an eine deutsche Schauspielerin vergeben wurde. Tipps für den Besten Darsteller waren dagegen schwieriger. Hier prägten sich vordergründig Darstellungen aus Filmen ein, die "Außer Konkurrenz" gezeigt wurden wie David Kross in "Der Vorleser" (Regie Stephen Daldry), Clive Owen in "The International" (Regie Tom Tykwer) und Riccardo Scamarcio in "Eden A L´Ouest" (Regie Costa Gavras). Bei der Preisverleihung wurde dann ein außergewöhnlicher Schauspieler auf die Bühne gebeten:Sotigui Kouyate, in Mali geboren, in Frankreich lebend und von einem hohen afrikanischen Selbstverständnis geprägt. Er spielt in dem leisen Soziodrama "London River" (Regie Rachid Bouchareb) neben der renommierten britischen Schauspielerin Brenda Blethyn als verwitweter Mutter den Vater eines jungen Mannes, der – zeitgleich mit einer jungen Engländerin – von einem Tag auf den anderen in London verschwindet.
"Dialogue en perspective"-Jury entschied sich für Doku über eine lebensfreudige Berliner Seniorin
Zwei der vier Filme weiblicher Regisseurinnen, die als Wettbewerbsbeiträge starteten, gelangten auf die vordersten Plätze im Rennen um die Bären der Hauptsektion. In der Perspektive Deutsches Kino war es auch eine Regisseurin, die von der jungen deutsch-französischen Jury mit dem "Dialogue en perspective" ausgezeichnet wurde: Anna Deutsch für ihren Dokumentar-Kurzfilm "Gitti" über eine vitale Berliner Witwe.
Der Spielfilm-Teddy fliegt nach Mittelamerika
Einer der Teddies wird nach Mexiko reisen. Julián Hernández nahm ihn im Haus der Kulturen der Welt für seinen Spielfilm "Raging Sun, Raging Sky" ("Rabioso sol, rabioso cielo") entgegen. Der Regisseur, der eine mythische Liebesgeschichte - durch eine Entführung auf eine Belastungsprobe gestellt - erzählt, gewann die Teddy Jury schon 2003 für sein Debut. Der Teddy für die beste Queer Doku ging an John Grey für die Doku Oper "Fig Trees" über einen kanadischen und einen südafrikanischen AIDS-Aktivisten.
Die Ikone des feministischen Kinos, Barbara Hammer, sorgt für weiblichen Ausgleich und wurde für ihre künstlerische Auseinandersetzung mit der eigenen Krebserkrankung "A Horse Is Not A Metaphor" mit dem Kurzfilm-Teddy geehrt.
Die LeserInnen-Jury der Siegessäule entschied sich für den Dokumentarfilm "City Of Borders" von Yun Suh über fünf ProtagonistInnen aus der Queer Communtiy von Jerusalem, die dem Hass zwischen PalästinenserInnen und JüdInnen einen Versuch der Annäherung entgegensetzen. Ihr Treffpunkt ist unter anderem die Queer Bar "Shushan", für deren Besuch junge PalästineserInnen die Mauer vom Gaza-Streifen illegal überklettern.
Erfolgreicher Abschluss der 59. Berlinale mit neuen Rekordzahlen (über 270.000 verkaufte Kinokarten)
Elf aufregende Berlinale-Tage gingen am Sonntag, den 15.02.2009, mit dem Publikumstag als Zusatzbonus zu Ende. Dessen Beliebtheit bestätigt jedes Jahr erneut den besonderen Charakter der Berlinale als Filmfestival, das den Bedürfnissen unterschiedlicher CineastInnen-Gruppen entgegenkommt: Dem Kino-begeisterten Publikum - direkt aus Berlin oder extra angereist - genau wie der hohen Anzahl an internationalen Filmfachleuten und JournalistInnen.
Großer Wert wird auch auf die Nachwuchsförderung gelegt: Ca. 300 Talente werden jedes Jahr zum Berlinale Talent Campus eingeladen. Mit dem World Cinema Fund beteiligt sich die Berlinale an der internationalen Filmförderung mit einem Fokus auf Länder, die ein hohes Potential an kreativen FilmmacherInnen haben, aber bisher aufgrund wirtschaftlicher Rahmenbedingungen weltweit noch nicht in Erscheinung getreten sind. Auch der Gewinner-Film "La Teta Asustada" erhielt Mittel aus dem World Cinema Fund.
Darüber hinaus wurden dieses Jahr erstmalig zwei Stipendien an zwei junge FilmmacherInnen aus Israel vergeben. Die Skriptwriterin Suha Araff und der Regisseur Itamar Alkalay kommen im Frühjahr für drei Monate nach Berlin.
Mehr Infos unter:
www.berlinale.de
www.teddyaward.tv