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Beitrag vom 08.06.2011
Morgen das Leben - Ein Film von Alexander Riedel
Evelyn Gaida
"Wer in München mit Mitte dreißig noch keine Karriere nachweisen kann, oder sich anderswie finanziell als dazugehörig erweist, der hat es schwer, denn der Anspruch auf dokumentierbare Leistung ...
... quillt, anders als in anderen deutschen Großstädten, aus allen Häuserecken. Diese Stadt lässt dir keine Wahl," so Regisseur Alexander Riedel über die Idee zu seinem Spielfilmdebüt.
"Morgen das Leben" begleitet drei Menschen, auf die genau das zutrifft: Sie sind Mitte dreißig bis Anfang vierzig, leben in München und sind noch nicht "angekommen", sondern auf der Suche – nach Veränderung, Liebe, Erfüllung oder einfach nur einer eigenen Wohnung. Aus unterschiedlichen Gründen sind sie durch die Maschen dessen gefallen, was man gemeinhin unter Glück und Erfolg versteht, und zappeln gleichsam in den Netzen des bereitgestellten Systems.
Der erfahrene Dokumentarfilmer Riedel wählt eine neuartige Erzählweise mit erstaunlichem Effekt. Er inszeniert seine drei HauptdarstellerInnen wie in einer Dokumentation ihrer aktuellen Lebenslage, ohne Beiwerk und Soundtrack, setzt darüber hinaus LaiendarstellerInnen ein, die ihren realen Berufsalltag spielen. Mit diesem hybriden dokumentarischen Spielfilmansatz gelingt Riedel ein großes Kunststück: Zivilisations- und Gesellschaftskritik zu üben ohne Kommentar, erhobenen Zeigefinger oder Tendenz. Dinge, Menschen und Situationen sprechen sich selbst aus und sagen damit alles, was nötig ist.
Judith (Judith Al Bakri ) ist alleinerziehende Mutter und lebt mit ihrem kleinen Sohn in einer Wohnsiedlung am Stadtrand. Die ehemalige Stewardess verdient ihren Lebensunterhalt mit Heimarbeit und Telefonmarktforschung. Das Gefühl der Anerkennung, Zugehörigkeit und Selbständigkeit, das ihr durch ihren früheren Beruf zuteil wurde, vermisst sie so sehr, dass sie immer wieder ihre Uniform und ihr Rollköfferchen aus dem Schrank holt, um damit durch das Shoppingcenter zu laufen.
Ulrike (Ulrike Arnold) hat 18 Jahre lang als Sachbearbeiterin im Jugendamt gearbeitet und möchte jetzt "eine Veränderung in meinem Leben, bevor es zu spät ist." Sie beginnt eine Ausbildung zur Masseurin und Kosmetikern, die ihr auch helfen soll, über die Trennung von ihrem Freund hinwegzukommen. Dabei wird sie jedoch ebenfalls mit ihrer Einsamkeit konfrontiert, wenn es darum geht, für ein Hochzeits-Makeup Modell zu sitzen.
Jochen (Jochen Strodthoff ) kann sich mangels Aufträgen nicht als freier Mediengestalter über Wasser halten und jobbt im Großmarkt. Er hat "gelebt, Leute kennen gelernt" und ist durch Südamerika gereist, findet sich jetzt aber in einem kleinen, möblierten Zimmer mit Kochplatte wieder, in das der Wirt (Franz Schnitzler) ein zweites Bett stellen lassen will. Um den beengten Wohnverhältnissen zu entfliehen, heuert Jochen schließlich in der Versicherung an, bei der schon sein Vater als Vertreter tätig war – und wird erst einmal zum Friseur geschickt. Sein Vorgesetzter (Gottfried Michl) vermittelt ihm auch eine neue Bleibe in einem Musterhaus.
AVIVA-Tipp: Der Regisseur fängt sehr intime Eindrücke aus dem (Arbeits-)Alltag seiner ProtagonistInnen ein. Ungewöhnliche Perspektiven und sehr einprägsame fotografische Einstellungen porträtieren sie und ihre Lebensumgebung mit minimalem Aufwand und maximaler Wirkung. Zwischen aufstrebenden Glasfluchten werden Ulrike und ihre Kollegin ganz klein von oben gezeigt, während sie verspannte ArbeitnehmerInnen in ihren Büros massieren. Verloren und seltsam deplaziert wirken die Masseurinnen in leeren Konferenzräumen, wirkt Jochen im leeren Musterhaus, wirken die Menschen in der Wohnsiedlung oder Shoppingmall, deren Rolltreppen und Zierbäumchen, Kehrmaschinen, Glasfassaden und Reinigungsmechanismen ein gespenstisches Eigenleben angenommen zu haben scheinen.
"Morgen das Leben" wurde mit dem Förderpreis deutscher Film und dem "Prädikat besonders wertvoll" der Deutschen Film- und Medienbewertung ausgezeichnet.
Zum Regisseur: Alexander Riedel wurde 1969 in Augsburg geboren. Nach dem Schulabschluss absolviert er eine Banklehre, holt dann 1993 sein Abitur nach und beginnt Politik und Theaterwissenschaften zu studieren. Später wechselt Alexander Riedel an die HFF, Hochschule für Fernsehen und Film, München. Zusammen mit Bettina Timm gründet Alexander Riedel 2000 die Produktionsfirma PelleFilm, für deren preisgekrönten Dokumentarfilm "Herr Zhu" er 2002 auch die Kamera führt. 2004 und 2005 dreht Alexander Riedel für die Dokumentarfilm-Reihe "Menschen in Bayern" des Bayerischen Rundfunks mehrere Folgen. Für sein Langfilmdebüt "Draußen bleiben" erhält Alexander Riedel zahlreiche Preise, darunter den Starter-Filmpreis der Stadt München, den FFFFörderpreis Dokumentarfilm und den Förderpreis HDF beim Deutschen Dokumentarfilmpreis 2009. Nach MORGEN DAS LEBEN arbeitet Alexander Riedel momentan für den Bayerischen Rundfunk an seinem neuen Dokumentarfilm "Letzte Chance", der drei im normalen Schulsystem gescheiterte Schüler auf ihrem Weg an einer Intensivschule begleitet.
Morgen das Leben
Deutschland 2010
Regie: Alexander Riedel
Buch: Bettina Timm, Alexander Riedel
DarstellerInnen: Judith Al Bakri, Ulrike Arnold, Jochen Strodthoff, Gottfried Michl, Kathrin Höhne, Nanouk-Jonathan Strodthoff, Viktoria Komarnicki, Gabi Geist, Franz Schnitzler, Vesna Walter, Gertrud Waitszies, Sabine Erikson u.a.
Verleih: Movienet Film
Lauflänge: 92 Minuten
Kinostart: 02. Juni 2011
Weitere Informationen finden Sie unter:
www.morgendasleben.de
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