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Beitrag vom 21.07.2011
Belgrad Radio Taxi - Ein Film von Srdjan Koljevic mit Anica Dobra
Undine Zimmer
Wer als TaxifahrerIn in Belgrad unterwegs ist, weiß nie, wer als nächste/s einsteigt. Manche GästInnen steigen auch einfach aus und ziehen eine Reihe unerwarteter Ereignisse mit sich. Und manchmal..
... dauert es eine ganze Weile, bis die Betroffenen merken, was eigentlich passiert ist. "Belgrad Radio Taxi" steckt voller kleiner Ãœberraschungen.
Es regnet ständig, eine lange Autoschlange zieht sich so langsam über die Belgrad-Brücke, dass mensch meint, zu Fuß schneller voranzukommen.
Anica (Anica Dobra) ist Lehrerin. Sie erlebt den Stau zwei mal am Tag aus verschiedenen Perspektiven: Einmal als Fahrerin durch die Frontscheibe ihres Autos auf dem Weg zur Arbeit und einmal als Beobachterin aus dem Fenster ihrer Wohnung. Blinkende Lichter, die wie eine lange funkelnde Kette niemals erlöschen. Im Hintergrund läuft immer dasselbe Radioprogramm: jugoslawischer Rock´n Roll der Sechziger. "Radio Belgrad" hat sich auf die StaufahrerInnen spezialisiert. Am Ende des Films wird die Station geschlossen und ihr Moderator, wie so viele Andere, auf der Brücke als Taxifahrer sein Brot verdienen. Auf dieser Brücke kann man verloren geglaubte Menschen wiederfinden. Irgendwann werden sie hier vorbei kommen. Nur einen Regenschirm sollte man nicht vergessen, während man auf sie wartet.
Die melancholisch angehauchten Irrungen und Wirrungen von Srdjan Koljevics Hauptfiguren entpuppen sich als vielschichtiges Portrait der Stadt Belgrad und seiner BewohnerInnen. Er hat die Geschichte Serbiens in scheinbar nebensächliche Kleinigkeiten und Episoden hineingeschrieben: Noch immer bestehende Vorurteile zwischen BosnierInnen und SerbInnen, die Erinnerung an den Krieg, der schon seit zehn Jahren beendet ist. Einige tragen noch immer Waffen. Das neue Belgrad hat eine schicke Oberfläche, die die Ruinen und Wunden der Stadt erst auf den zweiten Blick sichtbar werden lässt. Und auch die der Menschen.
Ein griesgrämiger Taxifahrer, eine depressive Mutter, eine traurige Lehrerin und eine selbstbewusste Apothekerin treffen auf der Belgrad-Brücke durch einen unvorhergesehenes Ereignis zur Hauptverkehrszeit aufeinander. Sie kollidieren nicht miteinander, stellen sich nicht gegenseitig vor, aber dieser Moment wird sie verbinden und wieder einholen. Und es sind Lebensentscheidungen, die von diesem Zufall abhängen.
Die scheinbar so ausgeglichene und ruhige Anica muss sich plötzlich mit Hass und Vergebung auseinandersetzen, sie weiß etwas über ihren Schüler Marko, das er und auch die Zuschauerin nicht ahnen konnten. Es kommt gerade dann ans Licht, als beide glaubten, schon fast alles über diese Frau erfahren zu haben.
Etwas treibt die ProtagonistInnen in "Belgrad Radio Taxi", als würden sie sich innerlich zurufen "Es muss weitergehen", sei es in schwierigen Zeiten, in Arbeitslosigkeit oder in Liebesdingen. Ein ständiger Regenschleier liegt auf den Bildern, in seinen Tropfen reflektieren sich starke Persönlichkeiten und liebevoll erzählte Geschichten.
Über den Regisseur: Srdjan Koljevic arbeitet als Dozent für Drehbuch an der Academy of Dramatic Arts in Belgrad, Serbien. Seit seinem Regiedebüt "Red Coloured Grey Truck" (2004) hat er viele Drehbücher für ausgezeichnete internationale Filme geschrieben. Für "Belgrad Radio Taxi" ist er sowohl für das Drehbuch als auch die Regie verantwortlich, für beide erhielt er in Novi Sad den Preis "Bester Film" und "Bestes Drehbuch", sowie den Publikumspreis.
Zur Hauptdarstellerin: Anica Dobra ist in Belgrad und Frankfurt am Main aufgewachsen. Das Deutsche Publikum kennt sie bereits von Auftritten im "Tatort" oder "Schimanski" oder dem Film "Der Hauptgewinn". 2008 wurde sie in dem serbisch-deutsch-ungarischen Psychothriller "Klopka – Die Falle" als beste Hauptdarstellerin für den Oscar vorgeschlagen, aber nicht nominiert. Schon in "Klopka" hat Anica Dobra mit Srdjan Koljevic zusammengearbeitet.
AVIVA-Tipp: "Belgrad Radio Taxi" ist melancholisch und hoffnungsvoll zu gleich. Jede der Figuren muss ihr "Jetzt" neu überdenken und sortieren. Apothekerin Biljana (Branka Katic) findet im Moment des Verlusts eine neue Freundin in Anica, die selbst ein Geheimnis hütet und der mürrische Taxifahrer Gavrilo (Nebojsa Glogovac) ist im Grunde genau das Gegenteil von dem, was er zu sein scheint. Srdjan Koljevics Belgrad ist bewohnt von liebevollen, verschrobenen Charakteren, von denen man sich am Ende des Films nur zu ungerne verabschiedet. Hauptdarsteller Nebojsa Glogovac ist für seine Rolle in "Belgrad Radio Taxi" 2010 zum serbischen Schauspieler des Jahres gewählt worden. Höchste Zeit, dass das deutsche Publikum ihn kennenlernt.
Belgrad Radio Taxi
Deutschland, Serbien 2010
Regie: Srdjan Koljevic
Drehbuch: Srdjan Koljevic
Kamera: Goran Volarevic
DarstellerInnen: Nebojsa Glogovac, Anica Dobra, Branka Katic, Vuk Kostic, Nada Sargin, Jasna Zalica, Stipe Erceg, u.a.
Verleih: Farbfilm Verleih
Lauflänge: 101 Minuten
Kinostart: 21. Juli 2011
www.belgrad-radio-taxi.de
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