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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 07.02.2011


Die Kinder von Paris - ein Film von Rose Bosch
Anna Hohle

Die "Rafle du Vel`d`Hiv`" - jene am 16. Juli 1942 von französischen Polizisten durchgeführte Massenrazzia unter der jüdischen Bevölkerung von Paris - thematisiert die Regisseurin in diesem...




... bewegenden Drama.

Lange Zeit wurde in Frankreich über ein erschütterndes Stück Zeitgeschichte geschwiegen: In wenigen Stunden verhafteten Polizisten der Vichy-Regierung in Kollaboration mit den deutschen Besatzern mehr als 13.000 Pariser JüdInnen - unter ihnen viele Kinder. Rose Bosch nähert sich in Die Kinder von Paris filmisch den Ereignissen jener Nacht. Sie orientiert sich dabei an den Erinnerungen von ZeitzeugInnen.

Historischer Hintergrund

Die Kinder von Paris behandelt die Verbrechen des Tages, der später als "Schwarzer Donnerstag" bekannt wurde. Ziel der von langer Hand geplanten polizeilichen Großrazzia war die Verhaftung jener ca. 28.000 immigrierten JüdInnen, die, bereits aus anderen europäischen Ländern immigriert, ohne französischen Pass in Paris und den umgebenden Gemeinden lebten. Koordiniert von Ministerpräsident Pierre Laval und unter dem Befehl des Pariser Polizeipräfekten Jean Leguay verhafteten französische Polizisten 13.152 jüdische Frauen, Männer und Kinder in den frühen Morgenstunden des 16. Juli 1942. Rechtzeitig gewarnt, konnten knapp 15.000 weitere Menschen der Verhaftung entgehen.

Alleinstehende oder kinderlose Männer und Frauen gelangten sofort in das Transitlager Drancy. Der Rest, etwa 7.000 Menschen, unter ihnen 4.051 Kinder, außerdem Schwangere und alte Menschen, wurde übergangsweise im Vélodrome d`hiver eingesperrt - einem Radrennstadion im 15. Arrondissement nahe des Eiffelturms. Hier wurden sie fünf Tage nahezu ohne Nahrung und Trinkwasser bei großer Hitze und unter katastrophalen sanitären Zuständen festgehalten. Etwa einhundert der eingeschlossenen Menschen begingen Selbstmord, auf Flüchtende wurde geschossen. Am 20. Juli wurden die restlichen Gefangenen schließlich in die Lager Beaune-La-Rolande und Pithiviers verbracht und von dort in die deutschen Vernichtungslager im Osten deportiert. Nur 25 der über 13.000 am 16. Juli verhafteten Jüdinnen und Juden überlebten das Kriegsende. Keines der über 4.000 Kinder war darunter.

Nach Kriegsende wurde die "Rafle du Vel`d`Hiv`" in Frankreich lange Zeit tabuisiert. Nur ungern wurde man an die Kollaboration mit den deutschen Besatzern erinnert. Erst 1995 formulierte der damalige Staatspräsident Jaques Chirac erstmals ein Schuldbekenntnis. Er sagte, dass "diese dunklen Stunden für immer die Geschichte Frankreichs beschmutzen […] An jenem Tag beging Frankreich, Heimat der Menschenrechte, einen nicht wieder gutzumachenden Schaden und lieferte seine Schützlinge an ihre Henker aus".

Die Geschichte Joseph Weismanns

Im Zuge ihrer dreijährigen Recherche zur "Rafle du Vel`d`Hiv" stieß Rose Bosch auf den Zeitzeugen Joseph Weismann. Er wuchs am Montmartre auf und wurde als Elfjähriger gemeinsam mit Eltern und Schwestern an jenem "Schwarzen Donnerstag" verhaftet. Nach fünf Tagen Aufenthalt im Vel`d`Hiv` wurde die Familie in das Transitlager Beaune-La-Rolande deportiert. Von dort aus gelang Joseph als Einzigem aus seiner Familie die Flucht.

Bosch orientiert sich an Weismanns Biographie und erzählt die Handlung des Films aus der Sicht des elfjährigen Jungen Joseph (Hugo Leverdez). Auch die weiteren ProtagonistInnen sind realen Personen nachempfunden. Die Regisseurin hielt sich, Handlung und Charaktere betreffend, so weit wie möglich an historische Berichte und nahm lediglich geringe Änderungen an den Details vor.

Viele Verfolgte - einige wenige RetterInnen

Joseph Weismann lebt mit Eltern und Geschwistern im 18. Arrondissement in Paris. Obwohl Frankreich von deutschen Truppen besetzt ist, genießt er bislang die weitgehend unbeschwerte Existenz eines elfjährigen Kindes. Dies ändert sich schlagartig, als im Frühsommer 1942 die jüdische Bevölkerung von Paris als Zwangskennzeichnung den gelben Stern tragen muss. Von einem Tag auf den anderen sind Joseph und seine Familie den Schikanen der Besatzer und den Ressentiments von Teilen der Bevölkerung ausgesetzt.

Den Ängsten und Befürchtungen von FreundInnen und Familie begegnet Josephs Vater Schmuel (Gad Elmaleh), selbst französischer Kriegsveteran, mit Optimismus: Zu groß ist sein Vertrauen in Staatschef Philippe Pétain und in das demokratische Frankreich. Als Gerüchte um eine bevorstehende Verhaftungswelle aufkommen, glaubt er wie viele im Wohnhaus nicht an eine Eskalation. "Warum sollten sie Kinder verhaften – die wären ihnen doch nur eine Last?", argumentieren viele der Mütter. Und: "Wovon sollen wir einfachen Leute eine Ausreise überhaupt bezahlen?"

So sind die meisten gänzlich unvorbereitet, als in den frühen Morgenstunden des 16. Juli schwere Stiefelschritte im Hausflur zu vernehmen sind. In den nächsten anderthalb Stunden breitet Rose Bosch vor dem Publikum das erschütternde Szenario organisierter Tyrannei und Menschenverachtung aus. Lediglich vereinzelt scheinen winzige Lichtblicke in Form der Anteilnahme Außenstehender in der düsteren Szenerie aus Not und Gewalt auf. Da ist beispielsweise die engagierte protestantische Krankenschwester Annette Monod (Mélanie Laurent), die Concierge, die vor den herannahenden Polizisten warnt oder der Feuerwehrmann, der entgegen dem Befehl die Eingeschlossenen mit Wasser aus Feuerwehrschläuchen versorgt. Fast sind die ZuschauerInnen versucht, solches angesichts der Unbarmherzigkeit der Geschehnisse für beruhigende, aber erfundene Tröstungen zu handeln. Doch Rose Bosch hält sich auch hier an historische Tatsachen: Annette Monod hat es wirklich gegeben - sie erhielt später den Titel einer "Gerechten unter den Völkern" in Yad Vashem, und auch die Episoden um den Feuerwehrmann und die Concierge sind aus ZeitzeugInnenberichten überliefert.

Trotz jener vereinzelten Hoffnungsfunken bleibt Die Kinder von Paris ein verstörender Film, der die ZuschauerInnen im Innersten trifft, nicht zuletzt deshalb, weil die Hauptfiguren Kinder sind. Rose Bosch lässt uns mitverfolgen, wie sie den 16. Juli und die Brutalität und Hoffnungslosigkeit der folgenden Tage und Wochen erleben. Das Entsetzen der Eltern, als sie sie in den nächsten Zug nach Osten steigen sollen, während ihre Kinder im Transitlager zurückbleiben, ist nicht in Worte zu fassen.

Filmausstattung und SchauspielerInnen

Der Film erhält seine Authentizität nicht zuletzt durch die aufwendige Ausstattung der Kulissen und die große Anzahl von StatistInnen. Szenenbilder Olivier Raoux baute die Kulisse des Winter-Velodroms am Set in Budapest originalgetreu nach. Mehr als 10.000 StatistInnen wurden engagiert, um die Dimensionen der gigantischen Razzia sichtbar zu machen. Überwältigend wirkt dann auch jene Szene, in welcher die ZuschauerInnen das Vel`d`Hiv` erstmals visuell "betreten". Die Kamera erfasst, ausgehend vom Gesicht der fassungslosen Annette, in langsamer Fahrt nach und nach die riesigen Ausmaße des Velodroms.

Auch die SchauspielerInnen leisten in diesem Film Außerordentliches. Sie stellen das Leid und die Verzweiflung von Menschen in einer Situation dar, die zu vergegenwärtigen die Vorstellungskraft der ZuschauerInnen im Grunde übersteigt.

Der einzige Wermutstropfen in diesem ansonsten überzeugenden und ergreifenden Film besteht in der vereinzelten Überstrapazierung bestimmter filmischer Mittel, etwa dem Bild des kleinen Nonos, der seinen Teddybären exakt an der Stelle fallen lässt, an der Annette zum Stehen kommt, als sie dem abfahrenden Zug hinterherläuft. Details dieser Art lassen den Eindruck entstehen, sie seien dazu erdacht, bei den ZuschauerInnen zusätzlich Emotionen hervorzurufen. Tatsächlich wirken sie in Verbindung mit der doch gerade durch ihre Authentizität ergreifenden Handlung eher störend. Eine künstliche Generierung von Emotionen ist angesichts der bloßen historischen Tatsachen, die für sich sprechen und garantiert niemanden gleichgültig lassen, absolut nicht notwendig.
In Frankreich löste der Film unter anderem auch eine Debatte zum Thema Fiktion und Emotion im dokumentarischen Spielfilm aus.

AVIVA-Tipp: Rose Bosch verhilft mit diesem Film den Opfern der an jenem "Schwarzen Donnerstag" begangenen Verbrechen zur verspäteten medialen Aufmerksamkeit. Außerhalb Frankreichs sind die Vorgänge im Zusammenhang mit der "Rafle du Vel`d`Hiv`" bislang wenig bekannt. Den Film sahen in Frankreich bereits über drei Millionen ZuschauerInnen. Insofern hat Bosch ihr Bestreben, eine längst überfällige Debatte anzustoßen, erreicht. Die Kinder von Paris ist ein Film, den man nicht "empfehlen" kann, denn es bereitet wie bei allen Filmen dieser Thematik wahrhaft kein Vergnügen, ihn anzusehen. Dennoch leistet er ein Stück Aufklärung, wie sie auch hierzulande noch immer unverzichtbar ist.

Zur Regisseurin: Rose Bosch, war Reporterin beim französischen Nachrichtenmagazin Le Point und arbeitete mehr als zehn Jahre an ihrem ersten Drehbuch für Ridley Scotts Kolumbus-Epos "1492 - die Eroberung des Paradieses" (1992) mit Gérard Depardieu und Sigourney Weaver in den Hauptrollen. Außerdem führte sie Regie für den Medizin-Thriller "Animal" (2005) und schrieb die Drehbücher für "Pakt des Schweigens" (2003), "Er liebt sie, er liebt sie nicht" (1998) und "Verhängnisvolles Alibi" (1998). Die Regisseurin hat auch einen persönlichen Bezug zum Thema Verfolgung in autoritären Diktaturen: Ihr Vater wurde als katalonischer Anarchist zu Zeiten des Franco-Regimes interniert. Sie ist mit dem französisch-israelischen Filmproduzenten Ilan Goldman verheiratet und hat mit ihm zwei Söhne. Die Kinder von Paris wurde von Goldman produziert.

Die Kinder von Paris
La Rafle
Frankreich 2010
Drehbuch und Regie: Rose Bosch
Produzent: Ilan Goldman
DarstellerInnen: Jean Reno, Mélanie Laurent, Gad Elmaleh, Anne Brochet, Thierry Fremont, Catherine Allegret, Denis Menouchet, Isabelle Gelinas, Hugo Leverdez, Mathieu Di Concetto, Romain Di Concetto, Olivier Cywie, Adele Exarchopoulos, Rebecca Marder u.a.
Verleih: Constantin Film
Lauflänge: 115 Minuten
Kinostart: 10. Februar 2010
FSK: ab 12
www.die-kinder-von-paris.de
www.larafle-lefilm.com

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Weiterlesen:

Claude Lévy/Paul Tillard: Der Schwarze Donnerstag. Kollaboration und Endlösung in Frankreich. Olten/Freiburg: Walter-Verlag 1968)
Die in diesem Werk angegebenen Zahlen der Verhaftungen am 16. Juli 1942 unterscheiden sich teilweise von den im Text genannten. In den letzten zwanzig Jahren gab es in Frankreich neue, umfangreiche Nachforschungen. Die oben genannten Zahlen entsprechen dem aktuellen Forschungsstand.





(Quelle: Constantin Film)


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Beitrag vom 07.02.2011

AVIVA-Redaktion