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Beitrag vom 29.06.2012
Im Bazar der Geschlechter – Ein Film von Sudabeh Mortezai. Ab 22. Juni 2012 auf DVD
Evelyn Gaida
Die Zeitehe, auch Lustehe genannt, ist eine alte schiitische Tradition. Aus unterschiedlichsten Blickwinkeln wird die gesellschaftliche Praxis dieses Phänomens im Iran von Sudabeh Mortezai ...
... beleuchtet, einer österreichischen Filmemacherin, die selbst bis zu ihrem 12. Lebensjahr im Iran lebte. Mullahs, geschiedene Frauen und ein lediger Taxifahrer legen offen ihre Sichtweisen oder Erfahrungen dar. Laut Regisseurin wäre es "undenkbar", den Film im Iran zu zeigen. Zum deutschen Kinostart stellte Sudabeh Mortezai ihren Film am 5. August 2011 persönlich in Berlin vor. Zu Gast war außerdem die Frauenrechtlerin und Buchautorin Seyran Ates.
Ohne fremde Kommentierung oder jegliche Einführung lässt Mortezai in ihrer überraschenden und vielstimmigen Dokumentation die Menschen sprechen. Zwar sind die auftretenden Personen für die ZuschauerInnen aus diesem Grund teilweise schwer einzuordnen. Wie von selbst setzt sich jedoch das Porträt einer Gesellschaft zusammen, die in einem Gewirr der Widersprüche und Doppelmoral gefangen ist. Religiöse Ernsthaftigkeit und Parodie, machtloses Schulterzucken und schalkhafte Ironie, Humor und illusionslose Klarsicht verzweigen sich zu einer vielschichtigen Darstellung. Hinter der Verschleierung geheiligter Dogmen tritt die Absurdität institutionalisierter Ungerechtigkeit hervor.
"Heiratsbüro Nr. 15. Kanzleichef: Hossein Nouri" steht ganz offiziell auf der Außentafel. Die Filmemacherin begleitet ein Paar zum Vertragsabschluss ihrer Zeitehe, die ZuschauerInnen erfahren Näheres über die Modalitäten der Abwicklung. Eine Zeitehe kann für eine halbe Stunde geschlossen werden oder für mehrere Jahre, Voraussetzung ist die Zahlung eines individuell verhandelbaren Brautgeldes an die Frau. Vor allem muss das Zusammensein von Mann und Frau amtlich angemeldet, erfasst und abgesegnet werden, sonst gilt es als Unzucht. Ehebruch wird mit dem Tod durch Steinigung geahndet, aber der Kanzleichef klärt den angehenden Zeitehemann auf: "Sie wissen, dass in der Zeitehe der Mann nicht geschieden sein muss. Der Mann braucht nicht mal die Erlaubnis der Ehefrau." Bis zur vier dauerhafte Ehefrauen könne ein Mann sich nehmen, die Anzahl der Zeitehefrauen sei gar unbegrenzt. "Solange Sie die finanziellen Mittel haben, können Sie jederzeit zur Trauung hierher kommen. Das ist rechtlich gar kein Problem."
Neben Maryam, eine geschiedene, alleinerziehende Mutter, und Mohsen, einen Junggesellen, begleitet die Kamera auch einen jüngeren Mullah, der bei verschiedenen Lehrern und Kollegen Meinungen über die Ehe auf Zeit einholt, oft mit verschmitzt-verschlagenem Lächeln. Jungfrauen dürfen ausschließlich nicht-sexuelle Verbindungen eingehen, erfahren wir auf diesem Wege, für junge Männer sei die Zeitehe eine gute Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln. Männer ohne ausreichendes finanzielles Vermögen hätten oft nur die Option der temporären Heirat, um eine Form ehelicher Gemeinschaft zu erlangen. Polygamie und Zeitehe seien das beste Mittel gegen Straßenprostitution. Ärgerlich ist für den weißbärtigen Großayatollah Gerami nur die Eifersucht der Frauen. Viele zögen es vor, ihr Mann besuche eine Prostituierte, statt sich eine Zweit- oder Zeitfrau zu nehmen. Seiner Auffassung nach ein klarer Fall: "Das Problem ist die Eifersucht der Frauen!"
"Bei der Scheidung ist der Erste, der dir nachstellt, der Richter", berichtet eine Freundin Maryams. Für Geschiedene sei kein Platz in der iranischen Gesellschaft, ihnen bliebe vieles verwehrt. Die Mutter ihres Zeitehemannes bestimme die richtige Braut – und das sei keine Geschiedene. "Solange diese Frauen keine Zeitehe eingehen und immer zu Vereinen rennen, werden sie schließlich als Prostituierte enden", prophezeit ein Mullah, der einem Wohltätigkeitsverein für alleinstehende Frauen vorsteht. Auch unverheirateten Männern wird im Iran das Leben schwer gemacht: Ohne Heiratsurkunde sucht Mohsen lange Zeit vergeblich nach einer Wohnung, an Singles wird nicht gern vermietet. Er muss sich jeden Abend eine neue Bleibe bei FreundInnen oder ehemaligen Zeitehefrauen suchen. Mehrere Millionen Toman als Brautgeld für eine dauerhafte Heirat möchte er aber nicht aufbringen. Am Ende zerstreite man sich ja doch.
Unübersehbar macht Mortezais Film vor allem die Kluft zwischen kontrolliert verschleierter Öffentlichkeit und privatem Leben innerhalb der eigenen vier Wände. Abseits der offiziellen Beobachtung tragen Frauen körperbetonte Kleidung und farbenprächtige Schminke, begegnen sie den Männern desillusioniert, aber selbstbewusst. Der Mullah aus dem Wohltätigkeitsverein wird zum "Witz des Jahres" ernannt, die rigide Staatsmoral und ihre religiösen Autoritäten mit einer Art resigniertem Sarkasmus voller entlarvender Erlebnisberichte beschrieben. "Das ist unsere Gesellschaft", lautet der lakonische Schluss.
Es ist eine Gesellschaft der extremen Widersprüche und der subversiven Energie. "Das ist keine Kultur, das ist männliche Arroganz", entgegnet ein junger Blogger dem filmisch begleiteten Mullah. Die Website rund um das Thema Zeitehe, die der 23-Jährige betrieben hatte, wurde von der Internetaufsicht gesperrt, als die Seite zu viele Hits erzielte. Jetzt hat er den Verein "Blogger über sexuelle Kultur" gegründet. Auch ein Mullah hat es schließlich nicht immer leicht. Geht er abends allein in ziviler Kleidung essen, bleibt er doch nicht unerkannt. Peinlich berührt wird er von einer kichernden Gruppe junger Frauen hochgenommen. Und im Taxi läuft persisch-englischer Rap mit illegalen Texten.
AVIVA-Tipp: In ihrer multidimensionalen Dokumentation über das Thema Zeitehe und die inbegriffene Ungleichbehandlung der Geschlechter präsentiert Regisseurin Sudabeh Mortezai erstaunliche Einblicke in die paradoxe Gesellschaft des Iran. Durch den Einsatz der Handkamera bringt sie die gefilmten Menschen und Orte den ZuschauerInnen sehr nahe. Eine beeindruckende und ungewöhnliche Reise in eine verborgene Welt.
Zur Regisseurin: Sudabeh Mortezai, geboren 1968 in Ludwigsburg, aufgewachsen in Teheran und Wien. Studium der Theaterwissenschaften in Wien, Abschluss 1994. Kuratorin und Organisatorin von Filmprogrammen. Langjährige Mitarbeiterin des Wiener internationalen Filmfestivals Viennale. 1997 – 1999: Leiterin des Programmkinos Filmcasino in Wien. 2002 – 2003: Filmstudium am UCLA in Los Angeles (Certificate Program in Film, TV and Digital Entertainment Media). Realisierung von Kurz- und Dokumentarfilmen. 2006: Children of the Prophet, Dokumentarfilm. 2007: Mitbegründerin von Freibeuter Film. (Quelle: W-film)
PREISE
NOMINIERUNG ÖSTERREICHISCHER FILMPREIS 2011
BESTER INTERNATIONALER DOKUMENTARFILM / DOCSDF 2010
BESTER ETHNOGRAPHISCHER DOKUMENTARFILM ESPIELLO 2011
LOBENDE ERWÄHNUNG / DIAGONALE 2010
Im Bazar der Geschlechter
Österreich / Deutschland 2010
Buch und Regie: Sudabeh Mortezai
Mitwirkende: Maryam, Mohsen Mahmudi, Mehri Ramezani u.a.
Verleih: W-film
Lauflänge: 84 Minuten
Persische OF mit dt. UT
DVD-Start: 22. Juni 2012
Weitere Informationen finden Sie unter:
www.bazar.wfilm.de
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