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Beitrag vom 21.09.2010
Fish Tank - Ein Film von Andrea Arnold
Evelyn Gaida
Filmszenen und -bilder, die das Genre Film, die visuellen Künste auf den Punkt bringen: Es spricht sich immer wieder etwas darin aus, das sich den Worten entzieht. Schon nach fünf Minuten sind die ...
... ZuschauerInnen schlagartig mitten hineingestoßen in die Welt der 15-jährigen Hauptfigur Mia, in einen englischen Stadtbezirk geprägt von Beton, Wohnblocks, Ödnis und sozialer Verwahrlosung. In den typischen Brennpunkt am unteren Rand der Gesellschaft also. Typisch ist an diesem Film sonst gar nichts.
Zwar ist sofort klar, dass sich hier ein Sozialdrama entspinnt, worin auf eine realitätsnahe Darstellung sehr großer Wert gelegt wird – jedes Detail hat in dieser Hinsicht Wiedererkennungswert: Die Trainingsanzüge, die großen Ohrringe, die Inneneinrichtung der Wohnung, die knallig bunte Wäsche auf den grauen Balkonen, die bulligen Kampfhunde auf der Straße – doch gerade die außergewöhnliche Zusammenstellung und Betrachtungsweise von Details ist das Herausragende an diesem Film.
Wut im Bauch
"Fish Tank" startet scheinbar wahllos an einem beliebigen Punkt in Mias Teenagerleben, das schon zu Beginn unter Hochspannung steht. Gerade hat sie sich mit ihrer besten Freundin entzweit und zieht extrem geladen durch die Straßen. Einige Minuten später setzt es bereits eine heftige Kopfstoß-Attacke gegen ein Mädchen aus einer Gruppe, mit der Mia sich anlegt. Zuhause angekommen wird die Streitsuchende von ihrer Mutter herumgeschubst und der raue Wind, der in ihrem Alltag weht, ist nach kürzester Zeit vollkommen präsent. Kameraeinstellungen auf Gegenstände in der Wohnung bilden einen bizarren Kontrast zu dieser feindseligen Atmosphäre: Kitschiges und Niedliches, die vorherrschenden Farben Rosa und Hellblau, das fadenscheinige Anpreisen der Segnungen bestimmter Haushaltsgegenstände im Werbefernsehen.
Was folgt, ist jedoch nicht vorrangig eine niederdrückende Darbietung der Ausweglosigkeit und der Verrohung, sondern in Mias Fall vor allem der Vergeudung menschlichen Potentials, das sein Übermaß an Energie durch eine explosive Mischung aus aggressivem und defensivem Verhalten ableitet. Längst von der Schule geflogen, findet Mia dennoch eine Möglichkeit, kreativ mit dem inneren und äußeren Chaos umzugehen. Allein in einer leer stehenden Wohnung entwickelt und tanzt sie Choreographien zu Rap- und Hip Hop-Songs. Wer nie etwas mit dieser Musik anzufangen wusste, kann deren Stakkato-Wucht und Wut im Bauch nach diesem Film wahrscheinlich besser nachfühlen.
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© Kool Filmdistribution |
ConnorEin Hauch von Fürsorge, Ermutigung und Verständnis zieht unerwartet in Mias Leben ein, als Connor (Michael Fassbender) auftaucht, der neue Freund ihrer Mutter. Er kontert lässig ihre kratzbürstigen Provokationen, ist hilfsbereit, aufmerksam und sieht auch noch aus wie David Beckham. Zwischen ihm und der Tochter seiner Freundin besteht von Anfang an eine starke Verbindung, die im Lauf des Films immer
spannungsgeladener wird.
RealitätscharakterIhrer herben Hauptfigur kommt die Regisseurin sehr, sehr nahe und reduziert die
Distanz zwischen ihr und den ZuschauerInnen soweit es irgend möglich scheint. Die Kameraführung ist hochbeweglich und wirkt äußerst spontan, zahlreiche, teils extreme Nahaufnahmen suggerieren
Lebensnähe, beziehen die ZuschauerInnen mit ein und machen ihnen die Enge eines Raumes oder die Nähe zwischen Menschen spürbar, als wären sie selbst vor Ort. So auch, als die Mutter der widerspenstigen Tochter (und den ZuschauerInnen) quasi aus dem Nichts attackierend entgegenkommt oder als Connor die betrunken Eingeschlafene in ihr Bett trägt:
Verschwommen und halbverdunkelt wird der wackelige Blick unter Mias Arm hindurchgeworfen, der in unscharfer Übergröße erscheint, zu hören ist dabei nur das Rascheln der Kleidung.
Kampfgeist und ZerbrechlichkeitEin zentrales Anliegen Arnolds war es, möglichst viele
Laien-SchaupielerInnen zu casten. Als Mia wurde die 17-jährige
Katie Jarvis besetzt, die keinerlei schauspielerische Erfahrungen hatte und nicht durch Vorsprechen auf sich aufmerksam machte, sondern durch einen Streit mit ihrem Freund auf einem Bahnsteig.
"Sie kam von da, wo wir drehen wollten und fühlte sich sehr echt an", begründet die Regisseurin ihre Entscheidung. Beim Film Festival in Edinburgh 2009 wurde Jarvis inzwischen als
Beste Darstellerin ausgezeichnet. Sie ist in der Lage, Mias unbeugsamen
Kampfgeist und herausfordernde Aufmüpfigkeit ohne viel mimischen Aufwand durchlässig zu machen für eine verborgene
Zerbrechlichkeit und Kindlichkeit, eine abwartende und staunende Stille. Diesen Widerspruch hebt Arnold mittels vieler Großaufnahmen der Physiognomie ihrer Hauptdarstellerin hervor, in denen sich das Ausmaß von Mias
Einsamkeit und Verlorenheit
ohne Worte ausdrückt.
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© Kool Filmdistribution |
Subversive PoesieEcht-Wirkung und Realitätscharakter in Kameraführung, Darstellung, Sprache, Drehort (Essex, südlich von London, Mardyke-Siedlung) und Ausstattung werden von einer
Beleuchtung begleitet, die das ungnädige und ernüchternde Licht des Milieus oftmals untergräbt. Die zeitweise einbrechende Farbintensität von Halbdunkel, Gegenlicht und Dämmerung stiftet eine subversive Poesie und einen
expressiven Gegensatz, der noch krasser wird, als Mia eine spezifische Realität schonungslos vor Augen tritt. "Fish Tank" kommt dabei gänzlich
ohne altbekannte und vordergründige Schockeffekte aus, sondern speist seine Dramatik aus einem inneren Geschehen heraus: Die Handlung verfügt über einen doppelten Boden, eine durchdringende seelische Spannung oder untergründige Metaphorik. Das Geräusch des Hammers, mit dem Mia auf eine Eisenkette einschlägt, um ein abgemagertes Pferd aus der Ödnis eines asphaltierten Wastelands zu befreien, geht durch
Mark und Bein. Ebenso die Wärme und Nähe, die von dem bedauerten Geschöpf für Mia ausgehen. Die Kameraführung bringt diese Emotionen den ZuschauerInnen wiederum sehr nahe, indem sie Fell, Rücken und Kopf des Pferdes als lebendige, atmende und vor allem
fühlende Landschaft inmitten der
Asphaltwüste behandelt. Andrea Arnold konzentriert und destilliert die Wirklichkeit ihrer Hauptfigur auf solche Weise immer wieder zu etwas
Hochprozentigem, das noch auf der Seele brennt, wenn der Film längst vorbei ist.
AVIVA-Tipp: Durch die herausragende Filmkunst der Regisseurin Andrea Arnold und das außergewöhnliche Schauspieldebüt der Hauptdarstellerin Katie Jarvis wird ein Teenagerschicksal an einem sozialen Brennpunkt lebensecht, ungeschönt, hochpoetisch und energiegeladen erzählt. Die Intensität dieses Films trifft mitten ins Herz.
Zur Regisseurin: Andrea Arnold wurde 1961 im englischen Kent geboren. Sie ist nicht nur Filmemacherin und Regisseurin, sondern auch Schauspielerin. Ihren ersten großen Erfolg als Filmemacherin hatte sie mit dem Kurzfilm WASP, der 2005 mit einem Oscar ausgezeichnet wurde. Ihr erster Spielfilm RED ROAD und ihr zweiter Spielfilm FISH TANK wurden beide nach Cannes in den Wettbewerb eingeladen und gewannen jeweils den Preis der Jury. Andrea Arnold ließ ihre Arbeit als Moderatorin von Kindersendungen nach dem Gewinn des Oscars für ihren Kurzfilm WASP hinter sich und widmet sich seitdem ganz der Arbeit als Filmregisseurin.
FISH TANK wurde bei den British Independent Film Awards 2009 in der Kategorie "Beste Regie" ausgezeichnet, ebenso als "Outstanding British Film" beim BAFTA-Film-Award 2010.
Fish TankUK 2009
Buch und Regie: Andrea Arnold
DarstellerInnen: Katie Jarvis, Michael Fassbender, Kierston Waring u.a.
Verleih: Kool Filmdistribution
Lauflänge: 122 Minuten
Kinostart: 23. September 2010
Weitere Informationen finden Sie unter:www.FishTank-Film.dewww.facebook.comwww.twitter.comWeiterlesen auf AVIVA-Berlin:Red Road