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Beitrag vom 17.06.2010
La Nana - Die Perle
Marie Heidingsfelder
Wie sieht das Leben einer Frau aus, die mit 41 Jahren immer noch das "Hausmädchen" ist? Nach 23 Jahren gehorcht Raquel nur auf den ersten Blick dem Glöckchenläuten ihrer ArbeitgeberInnen...
... Heimlich bestimmt sie dickköpfig über Haushalt und Alltag der Familie Valdez. Eine Stellung, die sie auch verletzt noch mit Zähnen und Krallen gegen mögliche Konkurrentinnen verteidigt.
Ein sehr spätes Coming of Age
Macht ist kein Gegenstand, den man besitzen kann, sondern begründet sich immer nur in Beziehungen. Unter diesem Gesichtspunkt ist Sebastián Silvas zweiter Film "La Nana" nicht nur ein beeindruckendes Frauenportrait und eine Coming of Age Story, sondern auch ein Film über Macht. Denn nach 23 Jahren als Hausmädchen ist Raquel in eine ambivalente Doppelbindung zu "ihrer Familie" verstrickt: Selbstverständlich feiert sie Weihnachten mit ihnen - und selbstverständlich isst sie von ihnen getrennt, nachdem sie das Essen serviert hat. Selbstverständlich gehört sie zur Familie und selbstverständlich ist sie "hier nur das Dienstmädchen" wie ihr die älteste Tochter Camila an den Kopf wirft. Mit 18 Jahren wurde Raquel in einer Funktion eingestellt, die den meisten westeuropäischen BesucherInnen antiquiert erscheinen mag. Sie ist die "Perle" des Haushalts, schlüpft seit 23 Jahren morgens in ihre Uniform und zieht die Kinder anderer groß. Den Weg vom Haus-Mädchen zur Frau hat sie links liegen gelassen, nie eine eigene Familie, noch eine Beziehung, noch überhaupt irgendeinen intimen Kontakt gehabt. Zu Beginn des Films, an ihrem 41. Geburtstag ist Raquel erschöpft: Der riesige Haushalt überfordert sie, zwei der vier Kinder sind in der Pubertät und sie sichert ihr tägliches Funktionieren mit Tabletten. Kopfschmerzen und Schwindelanfälle machen aus der Perle einen Drachen, besonders als die Familie vorschlägt, sie nach einem Schwächeanfall mit einem zweiten Hausmädchen - einer Konkurrentin also - zu entlasten. So anstrengend und perspektivlos Raquels Leben auch sein mag, sie verteidigt es verbissen und trickreich gegen alle Bewerberinnen - bis die lebensfrohe und herzliche Lucy kommt.
Der Lucy-Effekt
Mit "La Nana" gelingt es Regisseur Sebastián Silva, die BesucherInnen in die seltsame Parallelwelt einer Hausangestellten zu entführen. In harten Bildern zeigt er Raquels Alltag, oft sieht man ihr müdes Gesicht in Großaufnahme oder grell künstlich beleuchtet. Das Sonnenlicht und die warme Beleuchtung des Hauses stehen im Kontrast zu diesem flackernden Blau, das Raquels Feierabend-Vergnügen ist. Auch was den Ton betrifft ist "La Nana" ein anstrengender Kinobesuch. Kinder schreien, Geschirr scheppert, der Wecker piept erbarmungslos und ständig knallt eine Tür.
Dass man das Eintrittsgeld trotzdem nicht bereut, liegt vor allem am großartigen Spiel der Hauptdarstellerin Catalina Saavedra, der ein ebenso berührendes wie schwarzhumoriges Bild von Raquel gelingt. Ohne ihren Lebensentwurf zu verstehen, mag man den "Hausdrachen", fühlt mit und freut sich über die gelungenen Gemeinheiten gegen die Konkurrentinnen. Beeindruckend ist außerdem, wie es Regisseur Silva gelingt, mit Lucy die graue Grundstimmung Stück für Stück aufzuhellen. Man spürt, wie sich Raquels feste Vorstellungen von ihrem Sein und der Welt nach 23 Jahren auflockern und erlebt fasziniert, wie sie - viel zu spät, aber besser als nie - Freundschaft, Zuneigung und ein Stück Selbstständigkeit entdeckt.
"La Nana" ist erst der zweite Film von Sebastián Silva und wurde mehrfach ausgezeichnet - meist gewann er den Preis für die schauspielerische Leistung von Catalina Saavedra. 2010 wurde er für den Golden Globe in der Kategorie bester fremdsprachiger Film nominiert.
AVIVA-Tipp: "La Nana" ist eine Perle des zeitgenössischen südamerikanischen Kinos und das berührende Portrait einer ebenso widerspenstigen wie liebenswerten Frau zwischen Hausmädchen, Hausdrachen und zarter Emanzipation. Das Herz wird angenehm schwer, ohne dass einem das Lachen über den schwarzen Humor im Hals stecken bleibt.
Zu der Hauptdarstellerin: Catalina Saavedra wurde 1968 in Chile geboren und arbeitet als Schauspielerin für Film, Fernsehen und Theater. Bereits mit zehn Jahren entdeckte sie ihre Leidenschaft für die Bühne und nahm sie die ersten Schauspielstunden. Nach der Schule studierte sie experimentelles Theater und erhielt 1992 ihre erste Rolle in einer Fernsehserie. Es folgten zahllose Theaterstücke, Sitcoms, Soap-Operas und Filme in Südamerika. Durch ihre preisgekrönte Darstellung der Raquel in "La Nana" wurde sie 2009 auch über die Grenzen des Kontinents bekannt
La Nana
Chile und Mexiko, 2009
Buch und Regie: Sebastián Silva
Arsenal Film-Verleih
Lauflänge: 95 Minuten
Kinostart: 17. Juni 2010
Weitere Infos zum Film und Arsenal finden Sie unter: www.arsenalfilm.de
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