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Beitrag vom 12.03.2010
Precious - Sozialdrama von Lee Daniels
Adriana Stern
Eine Oscarnominierung nicht nur für den Film selbst, sondern auch die Auszeichnung mit dem Oscar für die beste Nebenrolle an Mo´Nique in diesem berührenden Sozialdrama von Lee Daniels sagen...
... schon eine ganze Menge über diesen Film aus. Aber auch die Hauptdarstellerin Gabourey Sidibe wird dank ihrer fabelhaften Amateur-Schauspielleistung in der Rolle der 16 jährigen "Precious" indirekt mit diesem Award geehrt.
"Precious", der im Jahr 1987 spielt und dessen Thema sowohl für Amerika als auch für Deutschland immer noch genauso aktuell und notwendig ist, nichts von seiner Brisanz verloren hat, ist wahrlich nicht leicht zu verkraften. Besonders in den ersten 20 Minuten ist es fast unmöglich, die Hände nicht ständig in die Armlehnen zu krallen, weil die Gewalt, die die 16 jährige Clareece Precious Jones erleiden muss, Schlag auf Schlag mit wohl der gleichen Wucht auf die BeobachterIn einschlägt, in der sie auch das Mädchen trifft.
Clareece, die sich selbst Precious nennt, erträgt die Gewalt des Vaters, indem sie in Sekundenbruchteilen nach innen flieht. Dissoziation ist der medizinische Fachbegriff für den einzigen Ausweg, den die Jugendliche in dieser Lage findet. Sie rettet sich förmlich in ihre selbst geschaffenen, inneren Welten.
In diesen Welten ist Precious der unbeschwerte, glückliche Star, die von unzähligen Fans geliebte und bewunderte Sängerin und Tänzerin. Sie wird von ihnen entsprechend respektvoll behandelt, ganz im Gegensatz zu ihrer realen Welt, in der sie nicht nur von den Eltern, sondern auch von anderen Jugendlichen missachtet und gequält wird. In ihrer heilen Traumwelt sieht sich Precious genauso, wie sie auch in ihrem wirklichen Leben aussieht.
Precious nämlich ist übergewichtig und schwarz und gilt gemeinhin nicht als Schönheit, außerdem erwartet sie gerade ihr zweites Kind. Ebenso wie die erste Schwangerschaft und eine HIV Infizierung ist diese das Ergebnis der brutalen Vergewaltigungen durch den Vater, gegen die sie sich nicht anders wehren kann als durch ihre dissoziativen Fluchten.
In Wahrheit lebt Precious in armen Verhältnissen in Harlem, die Mutter ist gewalttätig und arbeitslos, lebt von der Stütze und erniedrigt ihre Tochter, wo und wann sie nur kann.
Precious erträgt ihr Schicksal mit fast beängstigender, beinahe stoischer Ruhe, als ob sie sich den letzten Rest Stolz durch absolut gar nichts nehmen lassen will.
Als sie wegen der Schwangerschaft von der Schule verwiesen wird, landet sie in einer speziellen Schule für die Loser der amerikanischen Gesellschaft. Hier zeigt sich im Kontakt mit ihrer Lehrerin Ms. Rain, dass Precious im wahren Leben nicht einen Augenblick daran geglaubt hat, tatsächlich liebenswert zu sein.
Ihrer neuen Lehrerin gelingt es, das Mädchen nach und nach davon zu überzeugen, lesen und schreiben lernen zu wollen und ihre kleine, abgeschottete Welt des Schweigens und der Unwissenheit zu verlassen, um sich in die Welt der geschriebenen Sprache zu wagen. Die Lehrerin erringt zunehmend das Vertrauen ihrer neuen Schülerin. Precious geht zum ersten Mal gern in die Schule, was die Mutter erneut gegen das Mädchen aufbringt.
Sie zwingt Precious, statt in die Schule zur Wohlfahrt zu gehen, um mehr Geld ins Haus zu schaffen. Die Sozialarbeiterin Mrs. Weiss (eine wunderbare Mariah Carey) ermutigt Precious, über das zu reden, was zu Hause geschieht.
Ãœber ein "Ich esse, dann sehen wir fern, dann esse ich und dann sehen wir wieder fern" kommt sie lange nicht hinaus.
Als Precious mit ihrem zweiten Kind nach Hause kommt, geht die Mutter endgültig zu weit und Precious lehnt sich zum ersten Mal in ihrem Leben gegen diese übermächtige Frau auf. Gelingt es ihr jetzt, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen?
Die Mutter Mary, gespielt von Mo´Nique, brilliert in diesem Drama mindestens ebenso wie die exzellente Sidibe als Precious. Mo´Nique spielt die Rolle der vom ihrem Mann verratenen Frau, die mit einem völlig verpfuschten Leben die Wohnung so gut wie nicht mehr verlässt, mit unglaublichem Einfühlungsvermögen und Intensität und hat dafür einen Oscar für die beste Nebenrolle verdient und auch erhalten.
Sie hasst ihre einzige Tochter, demütigt und quält sie nur aus einem einzigen Grund: Ihr Mann liebt die Tochter offenbar mehr als die eigene Frau. Die innere Zerrissenheit, nicht anders handeln zu können und gleichzeitig genau zu wissen, dass Precious absolut unschuldig der Gewalt des Vaters ausgeliefert ist und auch sie ihr Unrecht tut, bringt Mary in nur einer einzigen Szene, die eine Schlüsselszene in diesem Drama ist, unmissverständlich zum Ausdruck. Diese Szene rührt nicht nur die Sozialarbeiterin im Film zu Tränen, sie bleibt auch den ZuschauerInnen mit Sicherheit lange im Gedächtnis.
Der Film hat den Publikumspreis von Toronto gewonnen und fehlt auf keiner Favoritenliste für die aktuelle Award Season. Schon auf seiner Festival-Wanderschaft 2009 - vom Sundance Film Festival über die Berlinale und Cannes - erwies sich "Precious" stets als Publikums- und KritikerInnenliebling. Und er wurde zu Recht als "Bester Film" nominiert und in der Kategorie "Beste Hauptdarstellerin" für den Oskar ausgezeichnet.
AVIVA-Tipp: Dem Publikum in Toronto, Berlin und Cannes kann frau sich nur anschließen. Es ist mehr als bedauerlich, dass deutsche ProduzentInnen so lange gezögert haben, den Film überhaupt in deutschen Kinos zu zeigen, weil er kein typischer, leicht verdaulicher, vergnüglicher Hollywoodstreifen ist. Nur dank der vielen Preise wird "Precious" es zum Glück doch in die deutschen Kinos schaffen, denn "Precious" ist ein wichtiger, notwendiger und bis zur letzten Sekunde absolut sehenswerter Film, der unsere ganze Aufmerksamkeit verdient.
Der Film im Netz: www.weareallprecious.com und www.das-leben-ist-kostbar.de
Precious
USA 2009
Regie: Lee Daniels
Produzentin: Oprah Winfrey
Drehbuch: Geoffrey Fletcher, nach der Novelle "Push" von Sapphire
Kamera: Andrew Dunn
Schnitt: Joe Klotz
Musik: Mario Grigorov
HauptdarstellerInnen: Gabourey Sidibe als Clareece Precious Jones, Mo´Nique als Precious Mutter Mary, Paula Patton als Lehrerin Ms. Rain, Mariah Carey als Sozialarbeiterin Mrs. Weiss, Lenny Kravitz als John u.a.
Länge: 110 Minuten
Verleih: PROKINO
Kinostart: 25. März 2010