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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 27.05.2009


Löwenkäfig
Claire Horst

Wie eine Löwin erscheint Julia, die Hauptfigur dieses argentinischen Films, zunächst wirklich nicht. Völlig zerschlagen und blutüberströmt wacht sie in ihrer Wohnung neben zwei ebenso ...




... zerschundenen Männern auf. Einer davon ist tot – Julia wird verhaftet.

Hat sie ihn umgebracht oder war es der andere Mann? Julia (Martina Gusman) weiß es nicht, und die ZuschauerInnen wissen es auch nicht. Für diese Frage interessiert sich der Regisseur Pablo Trapero auch nur am Rande. Stattdessen zeigt er das Gefängnisleben, in dem sich die junge Frau plötzlich wiederfindet, nämlich in einem Gemeinschaftstrakt mit Frauen aller Altersstufen und Schichten – vor allem jedoch sind sie alle entweder schwanger oder bereits Mütter. Auch Julia erwartet ein Kind. Ihren wachsenden Bauch bearbeitet sie mit den Fäusten – auf das Baby freut sie sich nicht. Von der Vorgeschichte, ihrem Verhältnis zu den beiden Männern etwa, erzählt der Film zunächst nichts.

Ihr Entsetzen über die Zustände im Frauengefängnis ist Julia jedoch deutlich anzusehen. Lebte sie vorher in einer Eigentumswohnung – angedeutet wird, dass sie Studentin war –, ist Julia jetzt von mehrheitlich armen Frauen umgeben. Es sind Frauen, die aus einer miesen Lage in die nächste geraten sind, die kaum jemand vermisst. Sie alle ziehen gemeinsam ihre Kinder auf, die in Argentinien bis zum vierten Lebensjahr bei der inhaftierten Mutter bleiben dürfen. Die Angst, das Kind spätestens dann zu verlieren, schwebt bei aller Gewöhnung an das Leben in Haft immer mit.

Die Bilder von dem Lebensalltag dieser Frauen und Kinder, von ihrem manchmal brutalen Umgang miteinander und der andererseits zärtlichen Fürsorge füreinander, berühren zutiefst. Julia ist zunächst abgestoßen von der alltäglichen, auch sexuellen, Gewalt unter den Frauen. Als sich jedoch Marta (Laura García) ihrer annimmt, die im Gefängnis zwei Kinder großzieht, ändert sich ihre Lage. Auf Marta hören die anderen Frauen, und sie beschützt Julia vor Übergriffen. Zwischen beiden entsteht eine zarte Liebesgeschichte, und Marta unterstützt die völlig überforderte Julia nach der Geburt ihres Sohnes Tomás. Während Julia auf ihren Prozess wartet, wächst Tomás im Gefängnis heran.

Auf Julias Frage nach dem Grund ihrer Haft hat Marta eine klare Antwort: "Weil ich arm bin und blöd". In Argentinien haben 37 % der inhaftierten Frauen keinerlei Schulbildung, 42 % haben nur die Volksschule abgeschlossen, 60% der Frauen im Gefängnis warten noch auf ihren Prozess. "Löwenkäfig" wurde in einem argentinischen Gefängnis gedreht, Nebenrollen wurden von echten Gefangenen und WärterInnen gespielt. Daher rührt sicherlich die Authentizität des Films, die Erschütterung, die er auslöst.

Dennoch vermitteln der Film und besonders die großartigen DarstellerInnen der Julia und der Marta nicht nur Verzweiflung. Ins Gedächtnis brennen sich vor allem die starken Momente der Solidarität zwischen den Frauen, die Wut und Kraft, die sie gemeinsam entwickeln. Streckenweise wirkt das Leben im Gefängnis fast normal: Gefängniswärterinnen spielen ganz selbstverständlich mit den Kindern im Hof, gemeinsam baden die Frauen ihre Kleinen und hängen ihre Wäsche auf.

Gegen diese Idylle steht jedoch nicht nur die Realität innerhalb der Gefängnismauern. Als Julias Mutter Sofía (Elli Medeiros) auftaucht, reagiert Julia abwehrend. Die Hintergründe für ihr Verhalten, die Erklärung für das Vorgefallene liefert Trapero nur tröpfchenweise. Genau darin liegt die große Überzeugungskraft des Films. Martina Gusman spielt ihre Julia als schweigsame, in sich gekehrte und verletzte Frau, die so wenig preisgibt wie möglich. Für die ZuschauerInnen ergibt sich nur langsam ein Bild dieser Frau, wer sie ist und woher sie kommt.

AVIVA-Tipp: In unglaublich starken Bildern und mit einer wunderbaren Filmmusik zeigt "Löwenkäfig" die Brutalität des Alltags von Frauen und vor allem Kindern im Gefängnis. Der anfangs im Mittelpunkt stehende Mord gerät dabei immer mehr in den Hintergrund. Stattdessen werden Menschlichkeit, Solidarität und die Wandlung der Julia von einer naiven Mittelschichtsstudentin zur abgeklärten Kämpferin zu den zentralen Elementen, die von den großartigen SchauspielerInnen ohne jeden Kitsch dargestellt werden. Löwenkäfig hat bereits mehrere lateinamerikanische Auszeichnungen erhalten. Außerdem war der Film beim Filmfestival in Cannes für die Goldene Palme nominiert und der argentinische Bewerber um den Oscar.

Löwenkäfig
Argentinien, Südkorea, Brasilien 2008
Regie: Pablo Trapero
Mit Martina Gusman, Elli Medeiros, Rodrigo Santoro, Laura García, Leonardo Sauma
FSK: 12 Jahre
Länge: 113 Minuten
Kinostart: 04. Juni 2009
DtF/OmU – 35 mm
Originaltitel: Leonera
Verleih MFA+ FilmDistribution e.K.: www.mfa-film.de
Weitere Infos zum Film auf der offizielen Website unter: www.leoneralapelicula.com



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Beitrag vom 27.05.2009

Claire Horst