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Beitrag vom 10.04.2009
Der Junge im gestreiften Pyjama – Eröffnungsfilm des 15. Jewish Film Festival Berlin
Claire Horst
Basierend auf der Romanvorlage von John Boyne erzählt der Film die Geschichte des achtjährigen Bruno, der sich mit einem komisch gekleideten Jungen anfreundet. Dass der gestreifte Pyjama ...
... den Shmuel trägt, die Kleidung der jüdischen Lagerinsassen ist, weiß Bruno nicht.
Er hält das Lager, in dem Shmuel lebt, für einen Bauernhof und den Stacheldraht, der es umgibt, für den Teil eines Spiels. "Der Junge im gestreiften Pyjama" erhebt nicht den Anspruch auf historische Korrektheit. Stattdessen haben Autor und Regisseur sich entschieden, den Holocaust aus der naiven Perspektive eines Kindes darzustellen.
Das ist eine legitime Herangehensweise, wenn sie dazu hilft, das Unvorstellbare begreiflicher zu machen. Bei Roberto Benignis "Das Leben ist schön" von 1998 hat das wunderbar funktioniert. Er zeigt das Grauen nicht direkt und schafft es dennoch, nichts zu verharmlosen. Mark Herman versucht etwas Ähnliches. "Der Junge im gestreiften Pyjama" besticht zunächst durch viele sorgfältig ausgearbeitete Details. Drehorte, Kostüme und SchauspielerInnen, alles passt ganz wunderbar. Und doch bleiben einige Fragen offen.
Der Film beginnt gemächlich und macht die ZuschauerInnen zunächst mit den Figuren vertraut. Der achtjährige Bruno lebt mit seiner Familie in einer herrschaftlichen Berliner Villa. Sein Vater ist Offizier der Wehrmacht. Als er befördert wird – später wird er das Abzeichen der SS-Totenkopfverbände am Revers tragen – muss die Familie umziehen. Bruno ist tieftraurig, denn das neue Haus liegt weit weg von Berlin mitten in einem Wald, und er muss sich von seinen Freunden trennen. Nach und nach erfahren die ZuschauerInnen, was es mit der Beförderung auf sich hat: Brunos Vater hat die Kommandantur eines Vernichtungslagers übernommen. Bruno, den die Mutter von den Geschehnissen um ihn herum abschirmen möchte, weiß nichts davon. Wie seine Mutter auch, lebt er in einer Blase der Unschuld. Weder hat er von den Deportationen in der Berliner Nachbarschaft etwas erfahren, noch ist der Mutter bewusst, was ihr Mann tatsächlich tut.
Bruno, völlig vereinsamt und verzweifelt auf der Suche nach einem Spielkameraden, entdeckt beim Erforschen der Umgebung einen Stacheldrahtzaun. Dieser umgibt das Lager, das der Vater befehligt. Doch davon weiß Bruno natürlich nichts. Für ihn ist nur eins interessant: Hinter dem Zaun sitzt der gleichaltrige Shmuel – ein neuer Freund! Bruno, der das Lager für einen Bauernhof hält, glaubt an ein Spiel, als er die merkwürdige Kleidung des Jungen sieht. "Erklärst du mir, wie das Spiel mit den Nummern funktioniert?", bittet er Shmuel. Täglich besucht er jetzt den neuen Freund. Durch den Zaun hindurch spielen sie Brettspiele und unterhalten sich über ihre Familien. Doch Bruno ist anscheinend so sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt, dass er niemals wirklich fragt, was im Lager vor sich geht.
Als sein Vater verschwindet, bittet Shmuel Bruno um Hilfe. Die beiden Kinder planen gemeinsam ihre Suche nach ihm und es geschieht etwas Schreckliches ...
Die Freundschaft zwischen dem Sohn eines hochrangigen Nazis und einem jüdischen Kind, die unter dem Slogan "Eine zeitlose Geschichte von verlorener Unschuld und gefundener Menschlichkeit" beworben wird, verdeutlicht die Absurdität der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie. Beide Jungen sind der faschistischen Indoktrination unterworfen, die sie doch überhaupt nicht verstehen können. Die jungen Schauspieler Asa Butterfield (Bruno) und Jack Scanlon (Shmuel) überzeugen dabei ebenso wie Vera Farmiga in der Rolle von Brunos Mutter.
Die langsame Entwicklung der Charaktere macht das Geschehen nachvollziehbar. So nimmt sich Herman Zeit für die Wandlung der Ehefrau des SS-Offiziers, die am Nationalsozialismus zu zweifeln beginnt, als sie von den Massenmorden erfährt, für die zwölfjährige Tochter, deren Liebe zu ihren Puppen direkt in jugendliche Schwärmerei für den "Führer" übergeht, für den jungen Soldaten, der die Emigration seines oppositionellen Vaters verschweigt.
Und dennoch – beim Verlassen des Kinosaal bleiben einige kritische Gedanken im Kopf. Ist es glaubhaft, dass Bruno sich niemals für die Hintergründe von Shmuels Lebenssituation interessiert? Würde ein Achtjähriger nicht den Hunger, das Elend des Freundes bemerken? Es stellt sich die Frage, warum Bruno einerseits fast nichts über die Judenverfolgung zu wissen scheint, obwohl er doch in Berlin aufgewachsen ist, und sich andererseits nicht über die Lage seines Freundes wundert.
Regisseur Herman lenkt das Mitgefühl der ZuschauerInnen besonders auf Bruno, obwohl das wirkliche Leid doch um ihn herum bei den jüdischen Lagerinsassen zu spüren ist. Ist es legitim, sich Bruno, dem Sohn eines SS-Offiziers, näher zu fühlen als den tatsächlichen Opfern des Holocaust? Der Film löst viele solcher Fragen aus und wirkt noch lange nach, weil er keine einfachen Antworten bietet.
Der Junge im gestreiften Pyjama wird als Eröffnungsfilm des 15. Jewish Film Festival Berlin vom 3. - 14. Mai 2009 gezeigt und erhielt von der Filmbewertungsstelle Wiesbaden das Prädikat besonders wertvoll.
AVIVA-Tipp: "Der Junge im gestreiften Pyjama" betrachtet den Holocaust aus einer ungewohnten Perspektive und wird sicherlich sehr kontroverse Diskussionen auslösen. Damit regt er zum Nachdenken über den Nationalsozialismus und die menschliche Psyche überhaupt an. Lesenswert ist die Romanvorlage, die der Autor John Boyne als Buch für Kinder und Erwachsene bezeichnet.
Der Junge im gestreiften Pyjama
(OT: The Boy in the Striped Pyjamas)
Großbritannien, USA, 2008
Regie: Mark Herman
DarstellerInnen: Asa Butterfield, Jack Scanlon, Amber Beattie, David Thewlis, Vera Farmiga, Rupert Friend, David Hayman, Cara Horgan
Verleih: Disney
Lauflänge: 93 Minuten
FSK: ab 6 Jahren
Kinostart: 07. Mai 2009
Weitere Informationen zum Film: www.derjungeimgestreiftenpyjama.de