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Beitrag vom 19.09.2019
SYSTEMSPRENGER. Kinostart am 19. September 2019
Saskia Balser
Drehbuchautorin und Regisseurin Nora Fingscheidt zeigt in ihrem vielfach ausgezeichneten ersten Langspielfilm "SYSTEMSPRENGER" den zunehmend aussichtslosen Weg der neunjährigen Benni durch sämtliche Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe. Der Film feierte seine Premiere im Rahmen der 69. Berlinale und ist als deutscher Beitrag für die Oscar-Verleihung 2020 nominiert.
Benni (Helena Zengel), die eigentlich Bernadette heißt, hat schon viel Zeit in verschiedene Pflegefamilien, Sonderschulen und Wohngruppen hinter sich gebracht. Warum sie nicht bei ihrer Mutter und ihren zwei kleinen Geschwistern wohnen kann, obwohl sie es sich sehnlichst wünscht, das wird gleich zu Beginn des Films klar, als Benni voller Wucht ein Bobbycar so lange gegen das Sicherheitsglas-Fenster ihres aktuellen Heims schlägt, bis es vor den entsetzten Augen der Sozialarbeiter zerbricht. In der erst neunjährigen Benni steckt eine unbändige Kraft, die sich in zahlreichen Tobsuchtanfällen, Schreiattacken und Schlägereien zeigt.
Mit ihrem unberechenbaren, aggressiven Verhalten ist Benni das, was im Pädagogik-Jargon als "Systemsprenger" bezeichnet wird: Ein Kind, das sich partout nicht ins soziale Hilfssystem integrieren lässt. Trotz aller Rückschläge geben die Menschen um sie herum nicht auf und versuchen weiterhin eine Lösung für sie zu finden, eine Wohnsituation, in der sie sich wohl fühlt und eine Person, die ihr Halt gibt.
Besonders Frau Bafané (Gabriela Maria Schmeide) vom Jugendamt setzt sich für sie ein und begleitet sie schon seit Jahren durch die verschiedensten Einrichtungen. Als diese sich zunehmend weigern, das als gewalttätig eingestufte Mädchen aufzunehmen, engagiert sie Micha (Albrecht Schuch), einen Schulbegleiter und Anti-Gewalttrainer. Als Benni nach einem Vorfall erneut in die Kinderpsychiatrie eingewiesen werden muss, macht dieser den Vorschlag, mit dem Kind drei Wochen in einer Hütte im Wald zu verbringen – eine Zeit, die beide an ihre Grenzen bringt.
"Wie soll ein Kind, dessen einzige Kontinuität der Wechsel ist, irgendwo Halt finden?"
Die fünf Jahre andauernde Recherche und Arbeit mit verhaltensauffälligen Kindern hat sich für Regisseurin und Drehbuchautorin Nora Fingscheidt gelohnt. Der Film zeigt authentisch, wie schwer sich der Umgang mit einem "Systemsprenger" gestaltet und dass es sich dabei um ein komplexes Problem handelt, für das es keine einfache Lösung geben kann. Fingscheidt setzt die unterschiedlichen Reaktionen auf Bennis Verhalten eindrücklich in Szene: Verzweiflung, Wut, Unverständnis, Überforderung – vor allem auf Seiten von Bennis Mutter (Lisa Hagmeister) – aber auch Hoffnung.
Zum Cast und Hintergrund
Der Film ist bis in die Nebenrollen hochkarätig besetzt, unter anderem mit der Schauspielerin, Filmemacherin und Autorin Maryam Zaree.
Durch das Ausnahmetalent der 2008 geborenen Helena Zengel, die zur Zeit gemeinsam mit Tom Hanks vor der Kamera steht, wird die Perspektive von Benni ausdrucksstark umgesetzt. Ihr wutentbranntes Gesicht und ihre ohrenbetäubenden Schreie machen die Intensität von Bennis Wut deutlich und erzeugen gleichzeitig Verständnis und Bedauern für dieses Mädchen, das trotz seines aggressiven Verhaltens sehr liebenswert ist.
Regisseurin Fingscheidt schockiert mit ihrem Film und regt zum Nachdenken an. Bereits der Filmtitel wird polarisieren, sagt sie. Den Begriff "Systemsprenger" hat sie ausgewählt, weil sie ihn als "ungemein kraftvoll und radikal" empfindet. "Selbst in der Fachwelt ist er sehr umstritten, weil er den Kern der Sache nicht recht trifft. Diese Kinder und Jugendlichen zerstören kein funktionierendes System, es sind gescheiterte Systemprozesse, die dazu führen, dass sie nirgendwo ausgehalten und immer wieder neu aus ihrer Bahn geworfen werden", so Fingscheidt.
Sie warnt davor, die Kinder als die Schuldigen zu begreifen, die das System zerstören. Für sie steht fest: "Gewalt von Kindern ist ein Hilfeschrei. Immer."
Zu Recht geht also "SYSTEMSPRENGER" als Kandidat für den Oscar 2020 in der Kategorie "Bester nicht-englischsprachiger Film" ins Rennen, nachdem Nora Fingscheidt für den Film bereits den Emder Drehbuchpreis 2016, den Berlinale Kompagnon-Förderpreis und den Thomas-Strittmatter Drehbuchpreis 2017 erhielt. Im Februar 2019 wurde das Drama im Rahmen der 69. Berlinale zudem mit dem Alfred-Bauer-Preis, auch genannt "Silberner Bär" ausgezeichnet. Der Preis wird an Filme verliehen, die neue Perspektiven der Filmkunst eröffnen.
AVIVA-Tipp: Nora Fingscheidts "SYSTEMSPRENGER" stellt überzeugend die Komplexität von Bennis Problemen und den Erwachsenen, die an ihnen scheitern, dar. Der Film regt an zum differenzierten, konstruktiven Umgang mit "Systemsprengern" fernab von banalen Schuldzuweisungen und ist damit ein wichtiger Beitrag zur deutschen Filmlandschaft und den Oscar-Verleihungen 2020.
Mehr zur Regisseurin: Nora Fingscheidt , 1983 in Braunschweig geboren, absolvierte eine Ausbildung zum Schauspielcoach und studierte von 2008 bis 2017 Szenische Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg. Mit ihrem Zweitjahresfilm SYNKOPE wurde sie für den Deutschen Kurzfilmpreis nominiert. Sie drehte in Los Angeles den Kurzdokumentarfilm BOULEVARD´S END, der u.a. beim New Directors / New Films Festival im MoMA gezeigt wurde. Seitdem arbeitet Nora fiktional und dokumentarisch. Ihr Studium beendete sie mit dem Dokumentarfilm OHNE DIESE WELT, welcher 2017 u.a. mit dem Max-Ophüls-Preis und dem First Steps Award ausgezeichnet wurde. SYSTEMSPRENGER ist Nora Fingscheidts erster Langspielfilm. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg.
Zu den Hauptdarsteller*innen: Helena Zengel (Benni) wurde 2008 in Berlin geboren. Sie hat bereits in diversen Filmen mitgespielt, darunter die Hauptrolle im Drama DIE TOCHTER von Mascha Schilinski, der 2018 auf der Berlinale lief, im preisgekrönten Kurzfilm ROUTE B96 von Simon Ostermann, in LOOPING von Leonie Krippendorf und in BABY BICHKA von Anna Maria Roznovska.
Zu sehen war sie außerdem unter anderem in den ZDF-Produktionen "Die Spezialisten – Dieser Weg" von Gero Weinreuter, "Es wird Tote geben" von Lars Becker sowie im "Spreewaldkrimi – Mörderische Hitze" von Kai Wessel. Sie wird zudem in dem Western "News of the World" von Regisseur Paul Greengrass nach dem gleichnamigen Roman von der US-amerikanischen Schriftstellerin Paulette Jiles gemeinsam mit Tom Hanks vor der Kamera stehen.
Albrecht Schuch (Micha), geboren 1985 in Jena, besuchte von 2006 bis 2010 die Hochschule für Musik und Theater "Felix Mendelssohn Bartholdy" Leipzig. Seit 2001 hat er auf verschiedenen Theaterbühnen gestanden, ab 2002 folgten Kino- und Fernsehproduktionen, darunter "Polizeiruf 110"- und "Tatort"-Episoden. 2012 stand er als Alexander von Humboldt in der Bestselleradaption DIE VERMESSUNG DER WELT von Detlev Buck vor der Kamera. Weitere Rollen spielte er unter anderem in WESTWIND von Robert Thalheim, in der Ken-Follett-Verfilmung DIE PFEILER DER MACHT und in einem Teil der preisgekrönten Trilogie "Mitten in Deutschland: NSU" von Christian Schwochow, wofür er den Grimme-Preis erhielt. 2018 wurde er mit dem Deutschen Schauspielerpreis als Bester Nebendarsteller in Kilian Riedhoffs ARD-Geiseldrama "Gladbeck" ausgezeichnet und 2019 für seine Leistungen in "Gladbeck" und "Kruso" mit dem Deutschen Fernsehpreis und der "Goldenen Kamera".
Systemsprenger
Deutschland 2019
Buch & Regie: Nora Fingscheidt
Darsteller*innen: Helena Zengel, Albrecht Schuch, Gabriela Maria Schmeide, Lisa Hagmeister, Maryam Zaree, Tedros Teclebrhan u.v.m.
Kamera: Yunus Roy Imer
Montage: Stephan Bechinger, Julia Kovalenko
Musik: John Gürtler
Kostüm: Ulé Barcelos,
Szenenbild: Marie-Luise Balzer
Verleih Deutschland: Port au Prince Pictures
Kinostart: 19. September 2019
Der Trailer ist online unter: www.youtube.com
Mehr Infos zum Film unter: www.systemsprenger-film.de und www.facebook.com
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Außerdem: die Gender Evaluation Berlinale 2019 ist veröffentlicht. Mit einer Filmauswahl unter dem feministischen Leitspruch "Das Private ist politisch" verabschiedete sich Dieter Kosslick als Festivalleiter. Ab 2020 wird mit Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian eine paritätisch besetzte Doppelspitze die Berlinale übernehmen. Den Goldenen Bären erhielt das israelisch-französische Drama "Synonymes". Angelehnt an seine Biografie, erzählt Regisseur Nadav Lapid aus dem Leben eines jungen Israeli, der in Paris seine Identität hinter sich lassen will. (2019)