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Beitrag vom 12.09.2018
Styx – Ein Film mit Susanne Wolff und Gedion Oduor Wekesa. Kinostart: 13.09.2018
Helga Egetenmeier
Auf der Berlinale 2018 mit dem Heiner-Carow-Preis sowie dem Preis der Ökumenischen Jury ausgezeichnet, verlegt dieser Spielfilm den inneren Konflikt der Notärztin Rike, die während ihrer genauestens geplanten Traumreise als Einhandseglerin auf ein überfülltes Flüchtlingsboot trifft,...
...unabweisbar in den Kinosaal. In klaren, kargen Bildern greift Styx die Themen Flucht, Hilfe und Mitgefühl respektvoll und ohne viele Worte auf.
Nahe des kleinen afrikanischen Inselstaates Kapverden, dessen Interesse, der EU beizutreten von der ehemaligen Kolonialmacht Portugal nicht unterstützt wurde, "um die europäische Außengrenze nicht zu erweitern", entdeckt die allein segelnde Ärztin durch ihr Fernglas viele Menschen auf einem kleinen Boot. Doch da sind wir bereits in der zweiten Hälfte des Films, der Zeit nach dem Sturm. Zuvor zeigt uns die Kamera eine ruhige und besonnene Frau, die sorgfältig und rational ihren Segeltörn plant. In Gibraltar belädt sie ihr Schiff, um dann in den Südatlantik, zur subtropischen Insel Ascension, auch "Garten Eden" genannt, aufzubrechen.
Die Styx - Grenze zwischen Leben und Tod
Die Styx, ein Fluss, wie auch eine Flussgöttin, steht in der griechischen Mythologie für die Grenze zwischen dem Reich der Lebenden und dem der Toten. Um Europa zu erreichen stirbt jährlich eine nur annähernd zu beziffernde Zahl von Menschen auf der Flucht, viele davon bei der Fahrt über das Wasser. Nach den Statistik-Auswertungen von Pro Asyl sind zwischen den Jahren 2000 - 2018 um die 35.000 Menschen an Europas Außengrenzen ums Leben gekommen. Somit ist diese Styx zu Beginn des 3. Jahrtausends für die Menschheit die tödlichste Grenze der Welt.
Entsprechend zurückhaltend lässt das Setting des Films keine mediterrane Romantik aufkommen, auch wenn in der Anfangsszene einige Affen über die Felsen von Gibraltar klettern. Grau-blaues Wasser mit weißen Schaumkronen, der raue Atlantik, dazu ein schmuckloser blauer Himmel, bilden das nüchterne Ambiente rund um das schneeweiße Segelboot. Anders als thematisch ähnliche Dokumentarfilme, wie "Seefeuer" / "Fuocoammare", der 2016 auf der Berlinale den Goldenen Bären gewann und "Eldorado", der 2018 auf der Berlinale lief und die Schweizer Einreichung für den Besten ausländischen Oscar 2019 sein wird, nutzt "Styx" die Freiheiten des durch das Drehbuch und die Regie bestimmten Inhalts eines Spielfilms. Wie ein Kammerspiel inszeniert, treffen so zwei Menschen aufeinander, die der Zufall bei ihrer Flucht, die gegensätzlicher nicht sein könnte, zusammenbringt.
Sprachlosigkeit mit karger Bildgestaltung
Susanne Wolff spielt ausdrucksstark die Ärztin Rike, in deren Gesicht sich mit einem Minimum an Mimik ihre gesamte Gefühlswelt ablesen lässt: Zuversicht, Selbstvertrauen, Verschlossenheit bis hin zur Freude, allein auf dem Meer zu sein. Dann der ungläubige Schreck, als sie das überfüllte Boot entdeckt, ihre Zielstrebigkeit, Hilfe zu holen, gefolgt von Enttäuschung und Ratlosigkeit. Wir sehen ihr beim Denken zu und fragen uns dabei, wie wir uns wohl entscheiden würden. In einem Interview zum Film erklärte die Schauspielerin: "Es gibt kein unpolitisches Verhalten mehr. Das wird immer deutlicher".
Als sie im zweiten Teil des Films den mit einem Ronaldo 7-T-Shirt bekleideten und bewusstlos im Wasser treibenden jungen Kingsley zu sich an Bord hievt, kommt damit der zweite Mensch auf die Leinwand und verändert die Situation grundlegend. Es beginnt ein wortkarger Zweikampf um die Macht über das Segelschiff und die Form der Hilfe für die Menschen in Seenot auf dem anderen Boot.
Die Begegnung: Urlauberin und Flüchtende
Wie ineinandergeschoben begegnen sich die Freizeit einer Notfallärztin und der Überlebenskampf von Menschen, die für eine bessere Zukunft ihr Leben aufs Spiel setzen. Aus der Sicht eines Mittel-europäischen Publikums erzählt, erhalten die ihnen Gegenüberstehenden unterschiedliche Einordnungen, wie Geflüchtete, Flüchtlinge, Asylberwerber*innen, Migrant*innen. Als Rike, nach ihren gescheiterten Versuchen, Hilfe einzufordern, mit dem Jugendlichen zu den Menschen auf das Boot hinüber blickt, kann sie ihm nur sagen: "I have no answers for you, I don´t know, what to say."
Mit Gedion Oduor Wekesa, der kämpferisch bis verletzlich die Hauptfigur Kingsley spielt, wurde ein junger Mann gecastet, der mit seiner Familie in Kibera lebt, einem Slum von Nairobi. Seinen Schauspielunterricht erhält er über das Förderprogramm von "One Fine Day e.V.", 2008 von Marie Steinmann-Tykwer und Tom Tykwer ins Leben gerufen. Das Projekt wirkt wie eine Antwort auf die persönlichen Fragen des Films nach individueller Empathie, Gleichberechtigung und Unterstützung in einer respektvollen Partnerschaft. Ein wichtiger Ansatz, wenn der politische Wille zur weltweiten Durchsetzung der Menschenrechte nicht erkennbar ist. Und dennoch reicht dies leider nicht aus, die durch den kapitalistischen Geist geprägten globalen Demokratiedefizite zu beseitigen.
AVIVA-Tipp: Ein inhaltlich, wie auch künstlerisch tief beeindruckender Film, der in unmissverständlichen Bilder zeigt, wie wenig Menschenleben zählen, wenn sie keine politischen oder ökonomischen Interessen bedienen. Trotz dieser gerechtfertigten Anklage drängt der Film keine Emotionen auf, sondern lässt den Zuschauer*innen durch seine ruhige Erzählweise Raum für eigene Deutungen und Gedanken.
Auszeichnungen:
Berlinale 2018: Heiner-Carow-Preis, Preis der Ökomenischen Jury, 2. Platz beim Publikumspreis, Europe Cinemas Label Preis
Filmkunstfest Mecklenburg-Vorpommern 2018: Hauptpreis "Fliegender Ochse", Publikumspreis, Preis für die beste Musik- und Tongestaltung
Internationales Filmfest Emden-Norderney 2018: Creative Energy Award für Susanne Wolff (Schauspiel) und Benedict Neuenfels (Kamera), "Schreibtisch am Meer" für Wolfgang Fischer (Regie, Drehbuch)
Valletta Film Festival 2018: Susanne Wolff als Beste Schauspielerin, Benedict Neuenfels für die Beste Kamera
Zum Regisseur: Wolfgang Fischer, geboren in Wien, studierte 1990-1995 Psychologie und Malerei an der Universität in Wien, 1994-1996 Film und Video an der Kunstakademie in Düsseldorf, danach an der Kunsthochschule für Medien Köln in Bereich Film und Fernsehen bis 2001. Ab 1994 arbeitete er als Regieassistent und hatte diverse Lehrtätigkeiten, seit 1999 ist er Regisseur beim WDR und bei Phoenix. Sein Spielfilmdebüt war 2009 der Psychothriller "Was du nicht siehst".
Zur Hauptdarstellerin: Susanne Wolff, geboren in Bielefeld, absolvierte ihre Schauspielausbildung an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover und spielte währenddessen auch am Schauspiel Hannover. Von 1998 bis 2009 gehörte sie zum festen Ensemble des Thalia Theaters Hamburg, daneben spielte sie 2001 in Wien, sowie 2005 bei den Salzburger Festspielen. Von 2009 bis 2016 war sie festes Ensemblemitglied am Deutschen Theater in Berlin und spielt seit 2003 auch für Film- und Fernsehrollen. Ihre erste Regiearbeit legte sie 2016 am Schauspiel Frankfurt mit der Produktion Shoot/Katzelmacher/Repeat vor. Für ihre Darstellungen auf der Bühne und vor der Kamera erhielt sie mehrere Auszeichnungen, so 2006 den Rolf-Mares-Preis für ihre Rolle der Penthesilea und 2013 den Deutschen Fernsehpreis als Beste Schauspielerin in "Mobbing". Ihre letzten Filmrollen waren 2017 die Clara in Volker Schlöndorffs "Rückkehr nach Montauk" und 2016 die Hauptrolle in "Hedda", einem Filmdrama nach Henrik Ibsen. Susanne Wolff ist selbst Einhandseglerin und im Besitz des Blauwassersegelscheins.
Zum Hauptdarsteller: Gedion Oduor Wekesa lebt mit seiner Familie in Kibera, einem Slum von Nairobi und geht noch zur Schule. Er erhält Schauspielunterricht im Drama Department des Förderprogramms von One Fine Day e.V. und hat sich für die Rolle des Kingsley unter 40 Jungen durchgesetzt, "Styx" ist sein Filmdebüt.
Das Projekt: One Fine Day e.V. wurde 2008 von Marie Steinmann-Tykwer und Tom Tykwer ins Leben gerufen. Damit ermöglichen sie Kunstunterricht in vier Schulen in den Slums von Nairobi. Parallel dazu entstand auch die Produktionsfirma "One Fine Day Films", die Filme produziert und Workshops anbietet.
www.onefineday.org
www.onefindedayfilms.com
Styx
Deutschland, Österreich 2018
Regie: Wolfgang Fischer
Drehbuch: Wolfgang Fischer, Ika Künzel
Schnitt: Monika Willi
DarstellerInnen: Susanne Wolff, Gedion Oduor Wekesa, u.a.
Verleih: Zorro Film
Lauflänge: 94 Minuten
Kinostart: 13.09.2018
Mehr zum Film und der Trailer unter: www.styx-film.com und www.facebook.com/styxthefilm
Weitere Informationen finden Sie unter:
www.seebruecke.org
Die Seebrücke sieht sich als eine internationale Bewegung, die von verschiedenen Bündnissen und Akteur*innen der Zivilgesellschaft getragen werden, die sich mit allen Menschen auf der Flucht solidarisieren. Ihr Motto "Wir bauen eine Brücke zu sicheren Häfen."
www.sea-watch.org
Sea-Watch e.V. ist eine gemeinnützige Initiative, die sich der zivilen Seenotrettung von Flüchtenden verschrieben hat.
www.proasyl.de
Pro Asyl setzt sich für die Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen ein: hilft in Asylverfahren, recherchiert in Menschenrechtsverletzungen, kämpft für eine offene Gesellschaft, in der Flüchtlinge Schutz erhalten.
www.aerzte-ohne-grenzen.de
Ärzte ohne Grenzen leisten medizinische Hilfe in Ländern, in denen das Überleben von Menschen durch Konflikte, Epidemien oder natürliche Katastrophen gefährdet ist. Wenn nötig für das Überleben der Menschen, sorgen sie auch für sauberes Trinkwasser, Nahrungsmittel, Unterkünfte und allgemeine Hilfsgüter.
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